Christlich-jüdisches Gespräch bei Bier und Wein
Von Johannes Gerloff
Geht der Wein rein, kommt das Geheimnis raus.« Das wussten schon die jüdischen Weisen des babylonischen Talmud. Nun ja, es war kein Wein, sondern nur einfaches israelisches Bier. Aber der Effekt war derselbe: Die Atmosphäre zwischen mir und meinem Rabbiner-Freund wurde immer gelöster, die Diskussion über die uralten hebräischen Texte angeregter.
»Ihr Christen könnt tagsüber Juden in die Gaskammern treiben und abends eure Weihnachtslieder singen, denn ihr werdet allein aus Gnaden gerettet«, fasste mein Gegenüber zu später Nachtstunde Gedanken in Worte, die bei gründlicher Überlegung vielleicht ungesagt geblieben wären: »Wir Juden dagegen müssen praktisch im Leben umsetzen, was wir glauben!«
Im Lauf der Jahre habe ich gelernt, dass derartige Verbalausrutscher sehr wertvoll sind. Sie offenbaren, was wir als Juden und Christen tatsächlich voneinander denken – bevor unsere Worte und Gedanken dialog-diplomatisch bereinigt wurden. Juden scheint die Unterscheidung zwischen dem Christentum, das »allein aus Gnaden« gerettet wird, und dem Judentum, das durch die Erfüllung seiner Gebote geheiligt wird, gar nicht so unrecht. Immerhin wird dadurch eine klar definierte, eindeutige, dogmatisch nicht ganz einfach überwindbare Distanz gewahrt.
Doch – und das habe ich damals auch meinem jüdischen Freund bei Bier und Talmud zu sagen gewusst: »So einfach ist das nicht.« Auch im Neuen Testament gilt: »Ein Glaube, der nicht Werke hat, ist tot« (Jakobus 2,17.26).
Einige Zeit später saß ich in einem Vortrag, den ein anderer Rabbiner in Jerusalem in hebräischer Sprache vor jüdischen Zuhörern hielt. Bei ihm entlockte nicht der Wein das Geheimnis. Er meinte »unter uns« reden zu können und kam so zu der Aussage: »Die Christen denken, sie hätten ganz neu entdeckt, dass ein Mensch nur aus Gnade durch den Glauben errettet werden kann. Dabei ist das eigentlich ein ›ur-jüdischer‹ Grundsatz.« »Wenn es eine Dogmatik gibt, der sich der größte Teil des gläubigen Judentums heute verpflichtet weiß, dann ist das der Siddur, das jüdische Gebetbuch.«
Daraufhin habe ich mich hingesetzt und das gesamte jüdische Gebetbuch auf der Suche nach Verdienstdenken und Werkgerechtigkeit durchgearbeitet. Dabei musste ich feststellen: Der Siddur atmet das »reformatorische sola gratia« auf jeder Seite und prägt so jüdisches Leben durch und durch. Die Gebete erweisen das Judentum als Gnadenreligion. Diese Erkenntnis sollte nicht verwundern. Wie kaum ein anderes Gebetbuch ist der Siddur in der Heiligen Schrift verankert. Dort wird über die Erlösung von Anbeginn als Gnadenakt des Schöpfergottes berichtet. »Aus Ägypten hast du uns erlöst, Herr, unser Gott …«, erinnert sich der jüdische Beter. Israels Auszug aus Ägypten, dem Land des Todes und der Versklavung, war in seinem Ursprung die Idee des Schöpfers und in seiner Durchführung das Werk dessen, der sich dem ägyptischen Pharao als der Vater entgegenstellt, der um seinen erstgeborenen Sohn eifert.
Von der historischen Verwurzelung her zelebriert die christliche Kirche in der Eucharistie gemeinsam mit dem jüdischen Volk das Passahmahl. Im Abendmahl erinnert, lehrt und vergegenwärtigt die Gemeinde dieses Rettungshandeln Gottes – »sola gratia«, allein aus Gnaden.
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