Seefahrt lehrt Beten
Bordseelsorge: Auf den Weltmeeren die Quellen des Glaubens entdecken
Von Edgar S. Hasse
Über Ho-Chi-Minh-Stadt (Vietnam) lag am Silvesterabend brütende Hitze, als ich an Bord des Kreuzfahrtschiffes »MS Europa« im klimatisierten »Club Belvedere« zur ökumenischen Andacht einlud. Vor der großen Silvestergala wollten die Passagiere des Luxus-Kreuzfahrtschiffes das Jahr besinnlich ausklingen lassen und das heilige Abendmahl feiern. Während ein katholischer Bordmusiker und ich als evangelischer Bordseelsorger die Patene mit Brot reichten, ging der Blick hinaus auf den Fluss Saigon. Draußen ein noch immer armes asiatisches Land, drinnen eine wohlsituierte christliche Gemeinde aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die sich zum Beten und Singen traf.
Seit 2010 bin ich zeitweise als ehrenamtlicher Bordseelsorger auf den Weltmeeren unterwegs, im Dienst der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Wer als Bordseelsorger in See stechen will, muss abenteuerlustig sein. Auf einem Kreuzfahrtschiff kann es schon mal vorkommen, dass bei Windstärke zehn der Konferenzraum total überfüllt ist. Die Passagiere strömen nicht nur deshalb dorthin in den Gottesdienst, weil die Landgänge ausfallen, sondern weil – wie ein altes spanisches Sprichwort sagt – Seefahrt Beten lehrt.
Zur Abenteuerlust gehört auch, bei einer geplanten Veranstaltung mit weniger Zuhörern zu rechnen, weil plötzlich etliche Gäste auf einer Eisscholle in der Antarktis festsitzen. Und im schlimmsten Fall ereilt Passagiere und Crew während der Reise die Nachricht, dass die Reederei insolvent ist, der Törn nur mit Mühe fortgesetzt werden kann und die Honorarzahlung für die Künstler ins Wasser fällt.
Seit der Auswanderungswelle von Deutschland nach Amerika im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist es üblich geworden, dass Bordseelsorger regelmäßig die Passagiere auf ausgewählten Ozeandampfern begleiten. Während auf der »MS Europa« (Hapag-Lloyd Cruises) bei jeder Reise von der EKD und der katholischen Kirche entsandte Geistliche mitfahren, gibt es religiöse Angebote bei den großen Kreuzfahrtschiffen mit 2 600 Passagieren wie bei TUI Cruises ausschließlich zu Weihnachten und Ostern.
Die meisten Passagiere wollen einfach nur unbeschwerte Tage auf See verbringen und ihren Urlaub genießen. Manchen aber fällt es schwer, den Alltag hinter sich zu lassen. Verdrängte Probleme gewinnen an Gewicht, Lebenskrisen reisen als blinde Passagiere mit. See-Tage werden zu Seelen-Tagen. Für all diese Gäste sind die Bordseelsorger als empathische Zuhörer da. Da ist jenes junge Paar, das vor Jahren sein Kind während der Geburt verloren hat und nun mit diesem Trauma ringt. Oder jene junge Frau, die irgendwo auf dem Atlantik zwischen Südamerika und Europa erzählt, dass ihre Familienstrukturen sie zermahlen. Und der Witwer, der bereits vor dem Start der Reise auf dem Flughafen danach fragt, ob es einen christlichen Gesprächskreis an Bord geben wird. 14 000 Kilometer von seinem Heimatort entfernt, wird er später vor der Antarktischen Halbinsel andere Gäste treffen, die ebenfalls ihren Partner oder ihre Partnerin verloren haben. Und schließlich gibt es noch die Crew, die zu den Festtagen einen englischsprachigen Gottesdienst erwartet.
Nicht zuletzt braucht man als Bordseelsorger einiges Improvisationsgeschick. Weil kein religiöser Raum vorhanden ist, müssen Theater, Konferenzsäle oder Lounges zu sakralen Orten gemacht werden. Im Idealfall befinden sich Gesangbücher und ein Kreuz im Fundus. Und die Weihnachtskrippe wird auf eine LED-Leinwand geworfen.
Trotz mancher Pannen bleibt am Ende die beglückende Erfahrung, auch weit entfernt von der Heimat auf Menschen zu treffen, die mitten auf dem Meer aus den Quellen des Glaubens schöpfen wollen.
Der Autor ist promovierter Theologe, Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule in Hamburg und Redakteur.
Autor:Adrienne Uebbing |
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