Von »Milchglasnost« und anderen Wundern
Kirchenpresse: Es ist überaus spannend, im Jahrgang 1988 der evangelischen Wochenzeitungen »Glaube und Heimat« und »Die Kirche« zu blättern.
Von Michael von Hintzenstern
Während die eine für die Leser der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen bestimmt war, erschien die andere in der Landeskirche Berlin-Brandenburg und verfügte unter anderem über eine Magdeburger Ausgabe für die Kirchenprovinz Sachsen. Bei der Lektüre fällt auf, dass sich die Chefredakteure Gottfried Müller und Gerhard Thomas oftmals an der Grenze des Machbaren bewegten – und diese gelegentlich überschritten. Immer im Bestreben, brennende gesellschaftliche Themen anzusprechen, die in der offiziellen SED-Presse und den Zeitungen der Blockparteien nicht vorkamen, aber die Menschen bewegten.
So findet sich im gebundenen Jahrgang 1988 der Magdeburger Ausgabe die Eintragung, dass fünf Nummern nicht erscheinen konnten. »Glaube und Heimat« war davon zweimal betroffen.
Deutlich zu erkennen ist das Bestreben, an Diskussionsprozessen teilzunehmen und eigene Positionen einzubringen. So beklagt sich beispielsweise im Dezember 1987 Gottfried Müller, dass beim DDR-Schriftstellerkongress die Kirchenpresse nicht akkreditiert wurde und nur die »volkseigenen Medien« sowie Funk- und Presseleute westlicher Redaktionen vertreten waren. Dabei habe sich gezeigt, dass auf östlicher und westlicher Seite spezifische Formen von »Milchglasnost« gepflegt wurden. »Auf diese Weise«, so der Kommentator, »ereignete sich das physikalische Wunder, dass erst die Addition von Milchglasnost und Milchglasnost die volle Glasnost ergab.« Und er spricht die Hoffnung aus, »dass wir uns in einem halben Jahrzehnt, wenn man zum nächsten Kongress rüstet, auf solches Zusammenfügen von publizistischen Halbheiten nicht mehr einzulassen brauchen«.
In Nr. 1/1988 verweist er darauf, dass Volksbildungsministerin Margot Honecker in einem Interview mit der »Jungen Welt« Verständnis für junge Leute bekundet hat, »wenn sie unausgewogene, ja zugespitzte Fragen stellen«. Sie habe damit ein Problem berührt, das weit über den Schulbereich hinaus reiche. »Auch im Betrieb, in den gesellschaftlichen Organisationen, in den Massenmedien und nicht zuletzt in der Kirche sollte jederzeit Raum für Fragen sein, selbst wenn diese von den Verantwortungsträgern nicht immer als angenehm empfunden werden. Fragen dürfen ist so etwas wie ein Menschenrecht.«
»Die Kirche« bringt in Nr. 4 auf Seite 2 einen Beitrag von Bausoldaten, die einen »Zusatzmonat« im Umweltschutz und Sozial- und Gesundheitswesen leisteten, um ein Zeichen für zivilen Wehrersatzdienst zu setzen.
In Nr. 6 berichtet »Glaube und Heimat« von einer Fürbittandacht am 30. Januar, in der sich die Berliner Kirchenleitung für die Freilassung der am Rande der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration Festgenommenen einsetzte. Ab Nr. 7 wird der Boden für die »Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« bereitet, die vom 12. bis 15. Februar in Dresden tagt und an deren Vorbereitung sich engagierte Christen mit über 10.000 Vorschlägen beteiligten.
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