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Aus neun mach eins: 100 Jahre Thüringen

Mehr als 80 Jahre nach ihrer Gründung fusionierte die Thüringer Landes-kirche wieder: mit der Kirchenprovinz Sachsen. Ihre Erfahrungen in den Anfangsjahren prägten diesen Prozess stark. 2008 unterzeichneten der Thüringer Bischof Christoph Kähler und der Magdeburger Bischof Axel Noack (rechts) den Vertrag zur geplanten Fusion. | Foto:  epd-bild/Dirk Zimmermann
  • Mehr als 80 Jahre nach ihrer Gründung fusionierte die Thüringer Landes-kirche wieder: mit der Kirchenprovinz Sachsen. Ihre Erfahrungen in den Anfangsjahren prägten diesen Prozess stark. 2008 unterzeichneten der Thüringer Bischof Christoph Kähler und der Magdeburger Bischof Axel Noack (rechts) den Vertrag zur geplanten Fusion.
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Eine genaue Karte des deutschen Kaiserreiches von 1918 ist besonders für heutige Thüringer verwirrend. Sie würden Mühe haben, den Umfang des Freistaates zu bestimmen. Das Gebiet glich einem Flickenteppich aus fast 100 Stücken, die zu neun Fürstentümern gehörten – und außerdem zu Preußen und Hessen. Zwar bildete sich am 1. Mai 1920 ein „Freistaat“ aus acht ehemaligen Fürstentümern, doch wesentliche Gebiete des heutigen Thüringen wie Erfurt oder Nordhausen, aber auch Suhl und Schmalkalden blieben bis 1944 preußisch bzw. hessisch.
Diese komplizierte politische Lage nach dem Ersten Weltkrieg war auch das erste kirchliche Problem: ein Gegenüber zum neuen Staat. Die evangelischen Kirchengrenzen entsprachen territorial den alten Fürstentümern, deren Herrscher zugleich auch für die Verwaltung und Finanzierung der Kirche in ihren kleinen Reichen sorgten. Als nach dem Ende der Fürstenherrschaften der Freistaat Thüringen entstehen sollte, brach damit die Frage auf, wie sich die evangelischen Kirchen organisieren und finanzieren sollten. Auch kirchliche Aufgaben in den Schulen mussten geklärt werden, da Geistliche oft Schulaufsicht ausübten.
Jenaer Theologieprofessoren riefen darum die bisherigen evangelischen Kirchen schon Anfang November 1918 auf, sich zu einer Notgemeinschaft zusammenzuschließen. Denn sie wussten, dass von einer künftigen Regierung kaum Wohlwollen gegenüber den Kirchen zu erwarten war. So kamen die Vertreter der kleinen Landeskirchen noch im November 1918 zu einer „Vorsynode“ zusammen. Sieben Kirchen einigten sich bereits im Dezember 1919 auf ihren Zusammenschluss. Formell errichtet wurde sie vor 100 Jahren, am 13. Februar 1920. Bis 1929 dauerte es jedoch, und es erforderte einige gerichtliche Auseinandersetzungen, bis der Freistaat Thüringen einen Staatsvertrag mit den bisherigen Kirchen schloss, der die finanziellen Verpflichtungen zwischen Staat und Kirche verbindlich regelte.
Zwei Gebiete schlossen sich der neuen „Thüringer evangelischen Kirche“ nicht an: Die Vertreter der Kirche von Coburg verabschiedeten sich aus der Zusammenarbeit, weil dort ein Volksentscheid im November 1919 den Anschluss an den Freistaat Bayern beschlossen hatte, dessen Grenzen man auch kirchlich entsprechen wollte. Die Synode des Fürstentums Reuß ältere Linie (Greiz) befürchtete dagegen, dass ihre streng lutherische Ausrichtung gefährdet werden würde, und blieb aus diesem Grund eigenständig.
Das zweite Grundproblem der neu gebildeten Kirche lag also in ihrem Inneren: Welche Geltung sollten die lutherischen Bekenntnisse, ihre jeweils abweichenden Auslegungen und die unterschiedlichen Frömmigkeitsprägungen erhalten? Zwar galten fast überall die lutherischen Bekenntnisschriften, doch die Praxis und die Theologie reichten von einem streng konfessionellen Luthertum bis zu einem liberalen Kulturprotestantismus.
Die Weimarer Hofgemeinde hatte zusätzlich reformierte Bekenntnisse wie den Heidelberger Katechismus angenommen, sie war also „bekenntnisuniert“. In Hildburghausen, Vacha und Frauensee gab es dagegen ihrer Herkunft nach ursprünglich reformierte Gemeinden. Insofern musste die neue Kirche klären, was diese Differenzen bedeuteten. Die diplomatische Formel, mit der man die Unterschiede zusammenhielt, lautete in der 1924 verabschiedeten Verfassung: „Die Thüringer evangelische Kirche ist ihrem Wesen und Ursprung nach eine Kirche lutherischen Bekenntnisses. Sie will eine Heimat evangelischer Freiheit und Duldsamkeit sein.“ Damit sollten das Glaubensbekenntnis und die Gottesdienstform der Gemeinden wie die Verkündigung der Pfarrer unangetastet bleiben; kirchlichen Minderheiten wurde ein besonderer Schutz versprochen. Dem entsprach auch, dass sehr verschieden ausgerichtete Kandidaten in den kirchlichen Dienst in Thüringen aufgenommen werden konnten.
Das Spektrum reichte von religiö-sen Sozialisten wie Emil Fuchs und Erich Hertzsch bis zu den bayerischen Vikaren Siegfried Leffler und Julius Leutheuser, die bereits 1928 einen „Nationalsozialistischen Pfarrer- und Lehrerkreis“ im Wieratal (Altenburger Land) gründeten. Wie die „Freiheit und Duldsamkeit“ in der Bindung an Bibel und Bekenntnis verstanden werden müsse, war zwischen diesen „Deutschen Christen“ und ihren verschiedenen Gegnern, darunter der „Lutherischen Bekenntnisgemeinschaft“, heftig umstritten, als Nationalsozialisten auch in der Thüringer Kirche diktatorisch regierten. Aus diesen bitteren Erfahrungen folgte, dass die Bekenntnisbindung der „Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen“ 1948 in ihrem neuen Namen und in der Verfassung von 1951 sehr viel deutlicher festgehalten wurde – nicht gegen reformierte oder unierte Kirchen, sondern als Reaktion auf eine kirchenzerstörende Irrlehre. Das gehörte zu den Grunderfahrungen, die den Zusammenschluss mit der „Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen“ ermöglichten.

Christoph Kähler

Autor:

Online-Redaktion

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