Ein Stück Leinen und seine Geschichte
In Windeln gewickelt
Die Sache mit den „Windeln“ ist wohl die peinlichste Stelle in der Weihnachtsgeschichte. Aber immerhin kommen sie zweimal vor. Da müssen sie wichtig sein. Warum?
Von Rolf Wischnath
Mit unseren Windeln fällt zum ersten Mal ein Schatten in unser aller Leben. Windeln müssen fest sitzen. Neugeborene sollen sich allein daraus nicht befreien können. Sie können sich ihren Windeln nicht entwinden. Windeln sind unsere ersten Fesseln. „Windeln“, das waren zur Zeit Jesu, was sie heute noch großenteils etwa in Russland sind und als was sie Lukas auch wörtlich bezeichnet: „Binden“ für den ganzen Leib. Genauer beschrieben: ein quadratisches Tuch (meist aus Leinen) mit einem sechs Meter langen Wickelband, in das das Neugeborene in früh-jüdischer Zeit während der ersten sieben Tage fest eingewickelt wurde. Erklärt wurde dieser Brauch damit, dass man auf diese Weise die Kinder zugleich anerkannt und sich zu eigen gemacht hat und dass – so fest und eingebunden – ihre von Schwangerschaft und Geburt krummen Glieder gerichtet würden.
Solcherart eingewickelte Säuglinge sehen auf Bildern aus wie verschnürte Päckchen. Und man ahnt, was für eine Tortur, was für ein Kreuz ihnen damit zugemutet wurde. Und sogleich assoziieren wir – wenn wir daneben die Bilder der letzten Einbindung von Menschen sehen – etwas, was sich beim Windeln wie ein Schatten ankündigt: dass man uns alle einmal ein letztes Mal einkleiden und einbinden wird, und wir dann alle wieder so passiv und hilflos sein werden wie beim ersten Windeln, dass dann andere zum letzten Mal unsere Blöße bedecken, bevor wir in Sarg und Grab gelegt werden.
Und nun erschließt sich, warum in der Weihnachtsgeschichte die Windeln genannt werden, gleich zweimal. Lesen wir Jesu Lebensgeschichte vom Ende der Evangelien her, dann fällt es wie Schuppen von den Augen: Auch am Ende des Lebens Jesu steht die letzte „Einbindung“, eine letzte „Wickelung“. Wie am Anfang des Weges der Maria nach Bethlehem zur Niederkunft, so taucht auch am Ende von Jesu Lebensweg ein Mann auf mit Namen „Josef“. Nun ist es „Josef aus Arimathia“. Er „erbat sich vom römischen Landpfleger Pilatus den toten Leib Jesu. Und er nahm ihn vom Kreuz ab, wickelte ihn in Binden aus Leinen und legte ihn in eine ausgehauene Gruft, worin noch niemand gelegen hatte“ (Lukas 23, Vers 52.53). So war die Grablegung Jesu, seine letzte Bindung. Und unübersehbar sind die Parallelen zur Weihnachtsgeschichte: Auch hier die „Bindung“ – „in Windeln gewickelt“ –, und auch hier eine kleine „ausgehauene Gruft, worin noch niemand gelegen hatte“. Die Futterkrippe am Geburtstag jenes Toten war nichts anderes als eine kleine ausgehauene Vertiefung in den Steinen des Stalls.
Seit dieser Nacht, in der der Sohn Gottes geboren und gewickelt wurde, gehört jeder Mensch unserem Gott. Keiner und keine ist ihm so ferngerückt, dass Gott in der Solidarität mit diesem Wickelkind, mit dem Mann vom Kreuz – ihm oder ihr, dir und mir – nicht auch noch die Deutung sagen könnte – nämlich die Liebeserklärung: Du Menschenkind gehörst auch zu mir. Und dich habe ich lieb, gerade dich, dich auch.
Windeln als Liebeserklärung? Ja, die eigenartigen Windeln sind Deutezeichen dafür, dass Gott auch unseren Leib meint und liebt, einen Leib, der in dieser Welt – so die Umstände nur grässlich genug sind – „preisgegeben ist allen Erniedrigungen, Schamlosigkeiten, ja Folterungen, mit denen Menschen ihresgleichen in ein nur noch dahingestrecktes, preisgegebenes, sich ängstigendes, zitterndes Stück Fleisch verwandeln können; aber es wird seit dieser ›Nacht‹ auch gelten, dass Menschen fortan nicht mehr leben und geboren werden aus dem Begehren des Mannes und dem Verlangen des Blutes, sondern allein aus Gott; kein Mensch ist fortan mehr des anderen Untertan, Produkt und Eigentum, ein jeder ist seit dieser ›Nacht‹ von ›Bethlehem‹ auf ewig Eigentum und Kind des ewigen Königs“, formuliert Eugen Drewermann.
Ein „ewiger König“ in Windeln? Im Alten Ägypten gab es von den Pharaonen die volkstümliche Redewendung vom „Herrschen auf der Windel“. Damit sollte ausgesagt werden: Dieser Pharao oder jener Großfürst, dieser Potentat oder jener Volksherrscher, der war so lange und so erfolgreich dran, dass es von ihm heißen konnte, er habe schon „aus den Windeln heraus“ und „auf der Windel thronend“ in Weisheit regiert. „Von Kindesbeinen an“, würden wir sagen. Oder: „Der hat schon als Kind die Weisheit mit Löffeln gefressen.“ Oder: "Es war ihm schon in die Wiege gelegt.“ Aber der Ausdruck vom Pharao, der schon „auf der Windel regiert“ habe, meint noch weitaus mehr: Er spricht von einer subjektiv wahrgenommenen Genialität des jeweiligen Herrschers schon in Windeltagen. Gegen dieses selbstherrliche Überschnappen von Menschen, gegen einen solchen Personenkult spricht die Weihnachtsgeschichte, indem sie anders von den Windeln des Königs Jesu Christi spricht. Kein Wort verlautet von diesem Kind. Und am Ende vor den Potentaten und Diktatoren seiner Zeit schweigt er wieder. Denn seine Herrschaft geschieht im Zeichen des Kreuzes, der Erniedrigung, der Solidarität und einer Liebe, die den Tod aus Liebe nicht scheut.
Ist das wahr? Der Wahrheitserweis findet sich in der Ostergeschichte. Bei Lukas wird berichtet, dass die Frauen, die bei der Grablegung am heiligen Abend des Karfreitag zugeschaut haben, zwei Tage später, am ersten Tag der Woche „am frühen Morgen zur Gruft kamen“ – übrigens wohl genau zu der Zeit, zu der am Weihnachtsmorgen nach jener Geburtsnacht – die Männer, die Hirten, bei der Krippe in Bethlehem ankommen –, dass also die Frauen zu dieser Zeit in die Gruft gehen. Und es heißt: „Als sie aber hineingingen, fanden sie den Leib des Herrn Jesus nicht.“ Und dann folgen fast dieselben Worte wie in der Weihnachtsgeschichte: „Es begab sich aber … siehe, da traten zwei Männer in klarem Gewand zu ihnen. Und sie fürchteten sich. Die Männer aber sprachen zu ihnen: Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier, sondern er ist auferweckt worden.“ (Lukas 24, Vers 5 und 6). Fast möchte man hier voranstellen: „Siehe, wir verkündigen euch große Freude!“
Und dann heißt es schließlich in dieser Ostergeschichte: “Diese Worte aber kamen ihnen vor wie leeres Gerede, und sie glaubten ihnen nicht. Petrus jedoch machte sich auf” – so wie die Hirten sich in der Weihnachtsnacht “aufmachten”. Und er "lief zur Gruft" – so wie die Hirten damals “eilend kamen”. Und wie Petrus "sich hineinbeugt in die Gruft” am Ostermorgen – so wie die Hirten sich über die Krippe gebeugt haben am Weihnachtsmor-gen –, da heißt es – zum letzten Mal bei Lukas werden sie erwähnt: “Und Petrus sieht nur die leinenen Binden daliegen” (Lukas 24, Vers 12). Er sieht sie und weiß und glaubt: Mein Gott, das Kind in der Krippe, der Tote vom Kreuz – er lebt! Und das habt zum Zeichen.
Autor:Online-Redaktion |
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