Eine Meditation zur Jahreslosung von Landesbischöfin Ilse Junkermann
Zugreifen und festhalten
Da da, da da, da da … tamtaram tamtam tamtamtam, tamtaram tamtam …« Die Melodie, die am Sonntagabend den »Tatort« der ARD eröffnet, gehört zu den bekanntesten Fernsehmelodien hierzulande.
Auf dem Bildschirm sehen wir dazu zunächst ein Augenpaar im Fadenkreuz, kurz darauf einen mit schnellen Schritten auf nasser Straße davonrennenden Menschen. Offenbar flieht er vor jemandem oder vor etwas. Bevor der Fokus des Fadenkreuzes ihn ganz einkreist, bricht das Intro ab. Für uns als Zuschauer bleibt unbeantwortet, ob hier ein Täter oder ein Opfer rennt, und auch, wie die Verfolgungsjagd ausgeht.
Die Jahreslosung für 2019 ruft diese Bilder vom Jagen in mir wach. Ist der Friede auf der Flucht, so dass man ihm nachjagen muss? Wenn ja, wo findet er Unterschlupf? Wo ist sein Zuhause? Und wer jagt ihm nach?
Deutlich ist: Frieden hat etwas Flüchtiges an sich, er ist fragil und verletzlich. In Mitteleuropa leben wir zwar seit nunmehr 73 Jahren in einem Miteinander ohne Krieg. Doch bereits der Blick auf die Länder des Balkans zeigt, dass dies ein besonderes Geschenk ist. Und wir erinnern uns an den Kalten Krieg, an die Aufrüstungsdebatten der 1950er- und 1980er-Jahre. Es ist noch nicht wirklich Friede, wenn kein Krieg herrscht. Zu Frieden gehört mehr. Um Frieden zu finden und zu bewahren, braucht es Kraft und Ausdauer, ähnlich wie bei einer Verfolgungsjagd.
Auch das andere Verb der Jahreslosung verweist auf den flüchtigen Charakter von Frieden: Wir sollen den Frieden suchen. Das Wort meint im Hebräischen ein zielstrebiges Drängen, etwas zu erreichen suchen. Martin Buber übersetzt: »Trachtet nach Frieden und jagt ihm nach.«
An beiden Verben – suchen und nachjagen – wird klar: Frieden ist kein Zustand, der, einmal erreicht, für immer Bestand hat. Frieden steht nicht zur freien Verfügung, als könnten wir einfach zugreifen wie zu einer Ware im Supermarkt. Frieden geschieht, Friede wird im Hier und Jetzt. Er leuchtet auf und geht wieder verloren, wenn er nicht ergriffen wird. Frieden ist ein lebendiger Prozess, der unser engagiertes und zielgerichtetes Handeln braucht.
Wie das konkret geht, sagt der Beter des 34. Psalms direkt vor den Worten der Jahreslosung: »Behüte deine Zunge vor Bösem und deine Lippen, dass sie nicht Trug reden. Lass ab vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach!« Nach Frieden trachten und jagen beginnt mit dem, was ich sage.
Oh ja, das kennen wir aus jedem Streit in der Familie. Ein falsches Wort – und der Friede ist fort, um die Ecke und zur Türe hinaus. Dass er bleibt, dazu braucht es, dass ich besonders auf das achte, was ich sage. Es braucht eine friedliche Grundhaltung, die bewusst Gutes redet und Verlässliches. So, wie Martin Luther das 8. Gebot erklärt: »Wir sollen … unsern Nächsten … entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.«
Das fordert Kraft und Ausdauer. Da muss ich mich anstrengen, insbesondere in einem Streit und Konflikt. Dass ich nicht noch eins drauflege an bösem Wort, an Verleumdung oder Ruf-Schädigung; dass ich vielmehr die Eskalation unterbreche. Es kommt auf mich und dich, auf jeden einzelnen an, dass Friede wird. Denn wenn die Worte verrohen, ist es nicht weit zu Gewalt. Wer seine Worte nicht beherrschen kann, kann bald auch sich selbst nicht beherrschen. Wir merken gerade mit großer Sorge, wie die Sprache verroht, wie die 140 Zeichen eines twitternden Staatsoberhauptes Lügen verbreiten, und wie Schmähung, Verleumdung, Verhöhnung auch auf unseren Straßen Einkehr halten.
So wirbt die Jahreslosung um unsere guten Worte; um Worte, auf die sich andere verlassen können, um Worte, die wahrhaftig sind; um Worte, die bewusst Frieden suchen und alles zum Besten kehren. So, wie es das Wort »Schalom« in der Bibel meint: Ein Zustand, in dem alle Menschen ein heiles, unversehrtes Leben leben können; in dem jeder und jede zu seinem und ihrem Recht kommt, ja, in dem alle Menschen vergnügt leben können. Das ist Gottes Geschenk für seine Menschen und seine Welt.
Davon ist unsere Welt weit entfernt. Weltweit wird militärisch agiert und aufgerüstet, anstatt zivile Wege der Konfliktlösung zu stärken. Nationale Interessen und die Gier nach Dividenden bestimmen die Wirtschaftspolitik, anstatt eine gerechte Verteilung der Ressourcen für alle zu suchen.
Im Netz werden schamlos Fake-News versandt und auf unseren Straßen in Deutschland wird der Ruf der friedlichen Revolution »Wir sind das Volk« missbraucht für Ausgrenzung, Diskriminierung und Angstmache. Hoch aktuell ist diese Jahreslosung, sie hat drei verschiedene Dimensionen.
Ihre politische Dimension drängt uns dazu, den Frieden nicht allein den Herrschern dieser Welt zu überlassen. Viel zu oft hat der Friede im Spiel der Machtinteressen das Nachsehen. Spätestens dann müssen wir heraus aus unseren Komfortzonen, heraus auf die Straße und die politisch Verantwortlichen mahnen, den Frieden wieder einzuholen.
Ihre soziale Dimension erinnert uns, wie eng Frieden und Gerechtigkeit zusammengehören. Auch das zielt direkt auf unsere Komfortzonen. Denn unser Wohlstand kann nicht endlos gesteigert werden. Angesichts der ungerechten Verteilung des Wohlstandes in der Welt und angesichts des Seufzens der Schöp-
fung brauchen wir eine Ethik des Genug. Ja, wir dürfen für das eigene tägliche Brot sorgen. Aber wir müssen in gleicher Weise Sorge tragen für das Brot unserer Nächsten. Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden. Alle Menschen sollen vergnügt leben können.
Und die individuelle Dimension fragt nach dem, was ich selbst konkret in meinem Lebensumfeld tun kann. In der eigenen Familie, in der Nachbarschaft, in jedem Dorf und jeder Stadt soll der Schalom Gottes Wirklichkeit werden: ein rundum heiles, unversehrtes Leben. Dass das eine bleibende Aufgabe ist, wissen wir alle. Darum ergeht der Appell auch an uns persönlich: Du Mensch, suche Frieden überall, wo er fehlt. Jage dem Frieden nach, wo er in Gefahr ist. Halte ihn fest, wo er zu entschwinden droht. Gewähre dem Frieden einen Unterschlupf bei dir und ein festes Zuhause.
Die Losung für 2019 gibt uns zur Aufgabe, an der Vision von einem umfassenden Frieden, den uns Gott schenkt, festzuhalten. Psalm 34 weist uns dazu den Weg: Wo das Gotteslob niemals verstummt, werden die Engel des Herrn aus allem Unfrieden heraushelfen. Wo wir das Wort Gottes halten, wird Gott selbst mit uns sein. Wo wir das Böse meiden und den Frieden suchen, werden unsere Gesichter hell sein vor Freude. Helle, freundliche Gesichter wünsche ich uns allen im neuen Jahr 2019!
Ilse Junkermann ist Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland.
Autor:Online-Redaktion |
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