Türkei
Korkma – Hab keine Angst
Es hätte ein schöner, kalter Tag werden können, dieser 6. Februar. Doch alles kam anders.
Von Paul-Philipp Braun
Fast zwei Minuten lang bebte in der Türkei und in Syrien die Erde mit enormer Kraft. Zwei Minuten, die für Millionen Menschen eines der einschneidenden Geschehnisse ihres Lebens werden sollten, die für Tausende Menschen zum Ende ihres Lebens führten.
Für das Team der deutschen Hilfsorganisation Isar Germany war das Beben, nach der Stadt Karamanmaras benannt, der Beginn eines Großeinsatzes – der derzeit noch anhält. Gut 24 Stunden, nachdem die Erde sich erstmals erschüttert hatte – viele Nachbeben folgten –, waren wir mit 43 Einsatzkräften und sieben Trümmersuchhunden im Erdbebengebiet. Die Südost-Türkei ist für ihre schöne Landschaft, die freundlichen Menschen und die endlos scheinenden Olivenhaine bekannt. Was wir aber sahen, waren Not, Leid und Elend.
Die immense Stärke des Bebens hatte Hochhäuser in sich zusammenfallen lassen, sodass sie nur noch einem Schutthaufen glichen. Die öffentliche Infrastruktur war gänzlich zusammengebrochen, Strom-, Gas- und Wasserversorgung faktisch nicht mehr existent. Als unser Rettungsteam die erste Einsatzstelle erreichte, hatten wir Glück. Die Kollegen unserer türkischen Partnerorganisation hatten kurz zuvor eine 60-Jährige geortet. Leicht verletzt lag sie hinter ihrem Kühlschrank. Sie konnte von unseren Bergungsfachleuten aus ihrer Lage lebend befreit und in ein Krankenhaus gebracht werden. Doch für viele andere kam jede Hilfe zu spät. Nur einen Steinwurf von der Rettungsstelle entfernt, war eine Autowerkstatt notdürftig zum Leichenschauhaus umfunktioniert worden. Im Minutentakt brachten Transporter die in Teppiche gewickelten Toten; das Schreien und Weinen ihrer Angehörigen war erschütternd.
Fast 60 Stunden lang kämpften wir zusammen mit örtlichen Einsatzkräften, engagierten Übersetzern und einer kleinen Abordnung des Technischen Hilfswerks (THW) um Zeynep – und ihr Überleben: Bastmatten, Beton und Stahl, sogar eine Gasleitung waren im Weg. Unser medizinisches Team versorgte sie mittels einer selbstgebauten Trinkleitung, bestehend aus Infusionsschläuchen. Wir versuchten ihr Mut zuzusprechen und sie zu beruhigen, mit Worten wie "Korkma" – "hab keine Angst". Das Bergungsteam musste mit schwerem Gerät die Trümmer zerschneiden und auf die Seite räumen. Zeyneps Schwester Zübeyde wich nicht von ihrer Seite, durch die Trümmer getrennt. Auch sie hatte nahezu alles bei dem Beben verloren, war jedoch noch rechtzeitig aus dem Haus gekommen, bevor dieses zusammenstürzte.
Zeynep hingegen wartete im "Loch". Umgeben von ihren verstorbenen Kindern und ihrem ebenfalls toten Ehemann harrte sie in der Dunkelheit aus und wartete auf ihre Befreiung durch das Team aus Deutschland. Erst als sie mittels Trage über den Schutthaufen gebracht und in einen Rettungswagen gelegt wurde, brachen alle Dämme. Das Team weinte und lag sich in den Armen, war dankbar, ein weiteres Menschenleben gerettet zu haben – zumindest schien es so. Denn die Erleichterung der Rettung wich am Folgetag der traurigen Gewissheit: Zeynep hatte die Nacht nicht überlebt. Woran sie genau starb, ist nicht bekannt.
Wieder hatte auch ich Tränen in den Augen, weinte vor Trauer, Wut und Verzweiflung. Wieso musste Zeynep sterben? Ich habe keine Antwort. Und ich habe die Bilder im Kopf, die ich so schnell nicht los werde. Aber auch die Erinnerung wird mich begleiten, an die dankbaren Menschen, denen wir helfen und beistehen konnten und an die starken, tapferen Frauen.
Unser Autor war mit dem ehrenamtlichen Rettungsteam von Isar Germany in der Türkei im Einsatz.
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.