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Reporter hilft nach Erdbeben auf Haiti
Von allem zu wenig

Not, Elend, Dankbarkeit: Haiti zählt zu den ärmsten Ländern der Erde. Die Insel Grande Cayemite hat außer einer Krankenschwester keinerlei medizinische Versorgung. Die deutsche Hilfsorganisation Isar Germany versorgte die großen und kleinen Patienten nach dem Erdbeben.  | Foto: Paul-Philipp Braun
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  • Not, Elend, Dankbarkeit: Haiti zählt zu den ärmsten Ländern der Erde. Die Insel Grande Cayemite hat außer einer Krankenschwester keinerlei medizinische Versorgung. Die deutsche Hilfsorganisation Isar Germany versorgte die großen und kleinen Patienten nach dem Erdbeben.
  • Foto: Paul-Philipp Braun
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Sie reagieren schnell, die Ehrenamtlichen der Hilfsorganisation Isar Germany: Weniger als 24 Stunden brauchten sie, um nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti im August im Flugzeug dorthin zu sitzen. Mit dabei: unser Reporter Paul-Philipp Braun.

Es ist der Mittag des 14. August, als in Haiti die Erde bebt. Mit einer Stärke von 7,2 und einer Tiefe von zehn Kilometern sind die Erdstöße im Umkreis von Dutzenden Kilometern um das Epizentrum im westlichen Teil der Insel Hispaniola zu spüren. Binnen kürzester Zeit bricht in der ländlich geprägten Region, in den Städten Les Cayes und Jeremie das öffentliche Leben komplett zusammen. Unter Trümmern suchen Menschen nach Verschütteten, Bilder von Verletzten und zerstörten Gebäuden gehen in den sozialen Netzwerken um die Welt.

Als ich diese Bilder sehe, ist das Erdbeben erst wenige Stunden her. Kurz zuvor erhielt ich einen Anruf aus Duis-burg. Dort sitzt die gemeinnützige Hilfsorganisation Isar Germany, die sich seit 2003 um Menschen nach Naturkatastrophen kümmert, und in der ich seit 2016 Mitglied bin. Zertifiziert durch die Vereinten Nationen (UN) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gelten für die Arbeit der insgesamt 170 Mitglieder hohe Standards, was Einsatzbereitschaft und den Einsatz selbst betrifft. Eine dieser Anforderungen ist es auch, schon in kürzester Zeit nach einem Ereignis vor Ort zu sein und helfen zu können.

Ich habe 20 Stunden, bis mein Flieger geht. Die nachmittägliche Verabredung sage ich ab, laufe aus dem Café in der Erfurter Innenstadt nach Hause, packe dort die Einsatzkleidung und Ersatzstiefel zusammen, dazu mehrere Akkus für Laptop und Telefon. Hochkalorische Kekse, Klappschere und Weltstecker: Alles lagerte in den Kisten neben meinem Bett, wartet auf seinen ersten Einsatz im Ausland.

Drei Wochen am anderen Ende der Welt

Als wir am Flughafen Düsseldorf in unsere Kleinmaschine steigen, wird mir noch einmal ganz anders. Keine 24 Stunden ist es her, dass viele Menschen in einem der ärmsten Länder der Erde ihren Lebensinhalt verloren haben. Nun sind wir zu fünft auf dem Weg, um für sie da zu sein. Außer mir steigen gestandene Einsatzkräfte in das Flugzeug: ein Berufsfeuerwehrmann, ein Notfallsanitäter, ein Rettungshundeführer und ein Fachmann für internationale Katastrophenarbeit. Klein und unsicher komme ich mir vor in meinem ersten Auslandseinsatz.

Das Gefühl weicht während unserer fast dreiwöchigen Einsatzdauer am anderen Ende der Welt nie ganz von mir, und doch werde ich sicherer. Die ersten Tage verbringen wir in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Es gibt viel zu klären und zu besprechen, bevor im Gebiet geholfen werden kann. Alle wollen informiert sein, alle wollen mitreden: haitianische Behörden und Ministerien ebenso wie der nationale Zivilschutzstab. WHO, UN und Europäische Union haben eigene Koordinationsteams geschickt, neben uns sind sonst nur ein kleines Team aus Kolumbien und ein Team aus den Vereinigten Staaten im Land. Viele andere "monitoren" die Lage, wie es in der Fachsprache heißt. Sie werden erst nach unserer Abreise kommen.

Als das Gesundheitsministerium uns einen Einsatzbereich zuweist, können wir uns an die eigentliche Arbeit machen: Betroffenen direkt helfen. Inzwischen ist auch der Rest unseres medizinischen Teams aus Deutschland gelandet: 40 Ehrenamtliche, unter ihnen andere Sanitäter, Ärzte, Krankenschwestern, eine Hebamme, und elf Tonnen Material werden auf ein Boot gebracht und sind gut neun Stunden unterwegs. Auf der Insel Grande Cayemite entsteht unser Feldlazarett. Rund 100 Patienten können wir hier jeden Tag behandeln.

Die Karibiksonne brennt vom Himmel, während wir unser Material sowie eine Tonne Reis für die Bevölkerung vom Schiff auf kleine Fischerboote verladen. Aus Sicherheitsgründen haben wir die Nacht noch auf dem Schiff verbracht, bauen erst am nächsten Tag unsere Zelte an Land auf. Seit zwei Tagen konnte ich nicht duschen, die Anderen aber zum Glück auch nicht. Wir riechen alle gleich.

Kirche und Schule stehen noch

Nach einem Tag steht das Lazarett, unsere Schlafzelte sind aufgebaut. Der katholische Pfarrer des Ortes überließ uns den Vorhof der kleinen Schule. Sie und die oberhalb davon befindliche Kirche sind vom Erdbeben verschont geblieben. Viele Wohnhäuser, lawede Blech- oder Holzhütten, brachen zusammen. Kaum stehen unsere beiden Behandlungszelte, klopft es immer wieder an das Tor zum Schulhof. Rund 16 000 Menschen sollen, sagt der Pfarrer, auf der Insel leben. Eine wirkliche medizinische Versorgung gibt es nicht. Lediglich Krankenschwester Marie verrichtet hier seit zehn Jahren ihren Dienst. In allen medizinischen Fragen ist sie die Ansprechpartnerin. Seit dem Beben hat sie noch mehr zu tun, muss Verletzungen versorgen, für die sie eigentlich nicht ausgestattet ist. Dass nun ein medizinisches Team aus Deutschland kommt – für Marie ist es ein Segen. Auch, weil wir sie nicht allein lassen. Marie unterstützt das Team, lernt und kann Therapien ausprobieren, von denen sie bisher nicht einmal hörte.

Um sieben Uhr öffnen wir jeden Tag unsere improvisierte Klinik unter Palmen. Wir behandeln bis nach Eintritt der Dunkelheit. Nur mittags gibt es eine Pause. Auch ich stehe in dieser Zeit in meiner Einmal-OP-Kleidung im Zelt. Der blaue Stoff lässt ein wenig Luft durch. Würde ich Schlappen statt hoher Einsatzstiefel tragen, läge die Vermutung nahe, dass wirklich gleich ein Arzt zur Visite kommt.

Inhaltlich erlebe ich von der Romantik einer Arztserie aber sehr wenig. Mehr als einmal geht es in unseren Zelten wirklich um Leben und Tod. Etwa als ein kleines Mädchen mit schweren Verbrennungen gebracht wird. Als die Erde bebte, lag sie neben einer Fritteuse. Die fiel um und übergoss die Kleine mit heißem Fett. Mehr als 30 Prozent ihrer Körperoberfläche sind verbrannt, sie leidet unter den Schmerzen. Im provisorischen OP-Zelt wird sie versorgt, bekommt Flüssigkeit, und ihr Körper wird vorsichtig von der verbrannten Haut befreit.

Rettung durch den Hubschrauber

Auch Isarbell hat es nicht leicht. Namenlos und wenige Stunden alt bringen Dorfbewohner sie zu uns. Die Kleine kam zu früh, ihre Mutter leidet an einer schweren Behinderung und kann sich selbst nicht um das Kind kümmern. Aus Einmalhandschuhen und einer Spritze baut eine Schwester eine Flasche. Eine Amme versorgt sie mit Milch. Als zwei Tage später ein Hubschrauber landet, können wir Isarbell – die Großmutter nannte sie nach ihren Helfern – und das Mädchen mit den Verbrennungen ausfliegen lassen. Das Team atmet auf.

Bei Weitem sind es aber nicht nur Erdbebenopfer, die auf dieser Insel versorgt werden: Die hygienischen Zustände sind so schlecht, dass Infektionskrankheiten einen reichen Nährboden finden. Die vollkommen aus Regenwasser gespeiste Trinkwasserversorgung öffnet Verdauungskeimen Tür und Tor. Wir ernähren uns nur von dem, was wir selbst mitbrachten. Auf unserem Speiseplan stehen Fertiggerichte, für unser Wasser haben wir eine eigene Aufbereitungsanlage mitgebracht.

Als wir nach mehr als einer Woche auf der Insel nach Port-au-Prince zurückkehren, ist Entspannung noch weit entfernt. Viel Gutes haben wir getan, das wissen wir. Mehr als 800 Patienten gingen durch unsere Zelte, einigen von ihnen konnten wir das Leben retten. Was wir aber auch wissen: Mit unserer Abfahrt reduziert sich die medizinische Versorgung wieder auf Krankenschwester Marie, wenngleich wir sie auch in Zukunft unterstützen werden.

Ich freue mich dennoch, nach Hause zu kommen, wieder richtig zu duschen, ein Bett zu haben und zu wissen, wie gut es mir eigentlich geht.

Autor:

Online-Redaktion

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