Von der Regel und ihrer Ausnahme
Warum es nicht zu kompliziert sein darf
Die US-amerikanische Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston forscht zu Regeln in der Gesellschaft. Es geht um eine alte Ordensregel, neue Algorithmen oder das Rauchverbot in Berliner U-Bahnen. Mit Joachim Heinz hat sie auch über die Ausnahme von der Regel gesprochen.
Wozu brauchen die Menschen Regeln?
Lorraine Daston: Regeln schaffen Ordnung in unserem Leben, und zwar eine bestimmte Art von Ordnung: Vorhersagbarkeit. Die Welt ist chaotisch. Um zu überleben – physisch wie auch psychisch – geben die Regeln uns Halt.
Haben Regeln immer die gleiche Qualität?
Es gibt viele Arten von Regeln: Maximen, Gesetze, explizite und implizite Regeln. Langfristig betrachtet ist interessant, dass die Regeln im Laufe der Zeit immer schlanker wurden. In früheren Zeiten dominierten "dicke Regeln", mit Beispielen unterfüttert, mit Anmerkungen und Ausnahmen versehen, um der Veränderlichkeit der Welt gerecht zu werden. Ab dem 19. Jahrhundert setzen sich mehr und mehr Regeln durch, die voraussetzen, dass wir mit einem bestimmten Grad von Vorhersagbarkeit und Uniformität in unserer Welt rechnen dürfen. Diese Entwicklung mündet schließlich in Regeln, die gar keine Ausnahmen vorsehen, wie die Algorithmen, die im Internet Verwendung finden.
Wie muss man sich demgegenüber "dicke Regeln" vorstellen?
Nehmen wir ein ganz berühmtes Beispiel, die von Benedikt von Nursia im 6. Jahrhundert verfasste Ordensregel. Nach der Regula Benedicti haben französische Mönche im 13. Jahrhundert gelebt – ebenso wie das heute Benediktiner in den USA tun. Das ist vor allem deswegen besonders beeindruckend, weil die Welt sich enorm geändert hat. Das Regelwerk hat überlebt, weil es einerseits sehr detailliert ist, andererseits aber auch immer wieder Ausnahmen gestattet.
Das heißt?
Der Aufbau ist immer ähnlich. Die Mönche dürfen etwa nur eine Portion Brot pro Tag essen und nur einen Viertelliter Wein trinken – außer, der Abt macht in berechtigten Fällen eine Ausnahme. Das ist beispielhaft für "dicke Regeln". Ausnahmen und sich wandelnde Bedingungen werden immer mitbedacht und in die Regeln eingebaut. Letzten Endes ist die Regula der Abt selbst: Er ist das Vorbild für alle Mönche, und es ist sein Vorbild, sein Beispiel, das die Regel mit Leben füllt.
Haben aber Religionen nicht auch ein Problem, weil sie zu viel regeln wollen?
Religionen sind sicher ein Sonderfall. Hier sollen Regeln nicht nur dem Zusammenhalt der Gemeinschaft dienen, sondern diese auch von anderen unterscheiden. Speiseregeln machen es schwierig, mit Angehörigen anderer religiöser Gemeinschaften zu essen. Hinzu kommt: Religiöse Regeln wollen nicht nur Ordnung stiften, sondern den Menschen auch zu Selbstbeherrschung anhalten. Deswegen sind religiöse Regeln eher strenger als Alltagsregeln.
Vielleicht haben es Religionen ja deswegen zunehmend schwer in westlichen Gesellschaften, weil hier Selbstbeherrschung nicht mehr so hoch im Kurs steht. Ist das so?
Da habe ich meine Zweifel. Wenn ich unsere Gesellschaft mit der frühen Neuzeit vergleiche, dann brauchen wir heute deutlich mehr Selbstbeherrschung. Man denke nur an den modernen Verkehr. Die Tatsache, dass es immer mehr Autos gibt aber zugleich immer weniger Unfälle, scheint mir ein Anzeichen von ganz enormer Selbstbeherrschung zu sein.
Machen wir einen Sprung in die Moderne: Im Kampf gegen den Klimawandel gibt es eine Fülle von Regeln. Warum scheint sich niemand so recht daran halten zu wollen?
Ich bin keine Expertin für Klimaverträge. Aber historisch gesehen laufen Regeln, die sehr spezifisch sind und ins Detail gehen, Gefahr, unterlaufen zu werden. Das sehen wir auch bei den Steuergesetzen. Die werden immer komplizierter, weil man versucht, alle möglichen Ausnahmen auszuschließen, aber zugleich ineffektiver, weil sie so kompliziert sind, dass niemand sie befolgen kann.
Dann brauchen wir erst einen Gesinnungswandel, und dann die Regel?
Nein, beides bedingt einander und muss gleichzeitig erfolgen. Vor einigen Jahren hat man in Berlin das Rauchen in der U-Bahn verboten. Als Amerikanerin habe ich erwartet, dass die Leute pünktlich am ersten Geltungstag die neue Vorschrift befolgen. Aber das war beileibe nicht so. Stattdessen haben die Behörden erst einmal mehr oder weniger höfliche Vorschläge gemacht, dass es besser wäre, mit dem Rauchen aufzuhören. Erst nach sechs Monaten hat man mit Strafgebühren angefangen. Man wollte die neue Situation normalisieren. Dann ist es viel einfacher, eine strenge Regel durchzusetzen.
Welche Regeln haben Sie bei Ihren Forschungen am meisten erstaunt?
Die Debatten um Rechtschreibreformen. Wir wissen alle, dass solche Regeln auf Zufällen basieren und Konventionen berühren, und dass sie dazu oftmals völlig irrational sind. Aber die Empörung, die hochkommt, wenn es auch nur um kleinste Änderungen geht, ist unglaublich. In Frankreich gab es vor einigen Jahren einen erbitterten Streit um die Schreibweise für Seerosen, die als "la guere du nenuphar" bekannt wurde. Die Academie francaise, seit immerhin 1635 die Autorität für die französische Sprache, hatte vorgeschlagen, "nenuphar" künftig mit "f" statt mit "ph" zu schreiben. Sie musste diesen Vorschlag zurückziehen.
Menschen sind seltsame Geschöpfe: Sie echauffieren sich über Ungeheuerlichkeiten ebenso wie über Banales …
Wie man richtig schreibt, wird uns schon in der Kindheit beigebracht – ebenso wie die wichtigsten gesellschaftlichen Normen. Eventuell rührt die Empörung in beiden Fällen aus der Tatsache, dass diese Regeln und Normen in den Schichten unseres Lebens am tiefsten verankert sind.
(kna)
Autor:Online-Redaktion |
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