Wort zur Woche
Blick in den Garten – so muss der Himmel sein
Christus spricht: Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.
Matthäus 11, Vers 28
Menschen in ihrem Alter haben meist Heimweh nach Erinnerungen, Frau M. aber würde das Haus ihrer Vergangenheit gern verlassen. Das Geschehene wegwischen, die „schlimmen Dinge“ vergessen. Jetzt, da sie ihren Garten nur noch vom Bett aus durchs Fenster sehen kann, holen sie die alten Bilder ein: der Hunger, der Frost, der Krieg.
Als die Welt ihrer Kindheit zerbrach, musste Frau M. ganz schnell sein. An der einen Hand die Puppe, an der anderen die kleine Schwester, folgte sie ihrem Dorf in die Berge. Die Mutter blieb später liegen im Schnee. Der Neuanfang war hart und für Trauer keine Zeit. Immer gab es etwas zu tun. Auch in den folgenden Jahren, als jeden Morgen die Kühe riefen und am Abend die hungrigen Kinder, bewahrte sich Frau M. ihre Schnelligkeit.
Wenn man sie nach ihrem Befinden fragt, sagt Frau M., sie habe ein „aufrechtes Leben“ geführt. Dafür sei sie dankbar. Nun, am Ende dieses Lebens, seien ihre Hände aber nahezu erstarrt und der Rücken krumm geworden, und manchmal habe sie das Gefühl, das sei eine verspätete Folge der Schrecken von damals. Als hätte das, was die Zeitläufe ihr angetan haben, mit großer Verzögerung seine Gestalt gefunden im erschöpften Körper. Eine immer schon mitgeführte, unsichtbare Last, nun sichtbar geworden.
Von der Mutter hat sie noch die alte Bibel. Manchmal lässt sie sich daraus vorlesen, wenn Besuch da ist. Dann hört sie die ausgelesenen Geschichten von Wundern und Wüste und Brot. Auch von Flucht, auch vom Kreuz. Dann ist es ihr, als schaute sie noch einmal anders auf ihr Leben, wie durch ein Fenster, fast so, wie sie dort draußen auf ihren Garten schaut.
Heute Morgen ist ihre Nachbarin gekommen, mit Kaffee und einem Lachen. Sie liest ihr vor. Es sind Worte Jesu. Kommt her zu mir. Kommt, ihr Müden, ihr Beladenen. Frau M. fällt es schwer, am Hier und Jetzt zu haften.Vielleicht, denkt sie, ist der Himmel ein wenig wie mein Garten. Wie leicht sich die Blumen im Wind bewegen … Frau M. lächelt. Ganz leicht.
Christoph Rätz, Vikar in Kapellendorf
Autor:Online-Redaktion |
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