Seit 25 Jahren gibt es im Land die Polizeiseelsorge und sie wird nie zur Routine
Auf der Seele wächst keine Hornhaut
Es ist ein schöner Herbsttag, geradezu geschaffen für eine letzte Ausfahrt in dieser Saison. Das schnelle Motorrad auf der Ortsumgehung, die Tempo-70-Zone mit Ampelkreuzung, der Linksabbieger, die tief stehende Sonne … Dann der Aufprall und für einen Moment Stille. Als ich an der Einsatzstelle ankomme, hat der Rettungsdienst gerade die Wiederbelebungsversuche eingestellt. Die Verletzungen waren zu stark. Im Personalausweis finden wir Anschrift und Alter. 36 Jahre! Mitten im Leben.
Noch wissen wir nichts über die Familienverhältnisse. »Hoffentlich ist er Single«, geht es mir durch den Kopf. Zusammen mit zwei Polizeibeamten mache ich mich auf den Weg zur angegebenen Adresse. Altmärkische Kleinstadt, Randlage, gepflegte Einfamilienhäuser. Dann stehen wir vor dem Grundstück: alles frisch saniert, vor dem Zaun achtlos hingeworfen ein Roller und ein kleines Fahrrad. Kinderlachen dringt aus dem Garten. Auf unser Klingeln hin kommt uns eine fröhliche, junge Frau entgegen. Wir vor dem Zaun tauschen einen vielsagenden Blick. Und ich habe wieder einen Kloß im Hals.
Der Umgang mit Menschen in extremen Lebenssituationen wird und darf niemals zur Routine werden, auch nach 20 Jahren Arbeit als Polizeiseelsorger. Es ist und bleibt für mich jedes Mal eine Herausforderung der besonderen Art. Da tun sich Abgründe auf, vor denen der Seelsorger selbst nie persönlich stehen möchte. Erfahrungen, die natürlich auch den Polizistinnen und Polizisten nicht fremd sind. Gerade die Altgedienten erleben, dass die Haut mit den Jahren dünner wird.
Und wie steht es mit den Berufsanfängern? Da ist zuerst die Neugier auf den längst erwarteten, vielleicht auch befürchteten Einsatz. Die harten Einsatzgeschichten der »alten Haudegen« sind immer wieder Pausenthema. Was nicht verarbeitet ist, nimmt viel Raum ein in der Schublade der Erinnerungen. Aber auch ein bisschen Stolz auf die Kerben in der eigenen Seele schimmert zuweilen durch. Bei den Neuen stellt sich bald der Wunsch ein, endlich mitreden zu können. Und sie hören im Kollegenkreis: »Da müssen sie durch. Wir dürfen sie nicht in Watte packen. Je früher, desto besser!« Salopper Slogan: »Augen auf bei der Berufswahl!«
Ich bin froh darüber, dass professionelle Einsatznachsorge sich mehr und mehr zum Standard entwickelt. Bei vielen Polizeibediensteten ist längst das Bewusstsein gewachsen, dass auf der Seele keine Hornhaut wächst. Da haben die Frauen und Männer in der Polizeiseelsorge in den letzten 25 Jahren eine wichtige und nachhaltige Aufklärungsarbeit geleistet, immer unterstützt durch die polizeiliche Kompetenz im Seelsorgebeirat. Die Haltung zu den Belastungen im Dienst ist eine andere geworden und damit auch die Akzeptanz für Entlastungsangebote, wie gerade die Einbeziehung des Polizei-Kriseninterventionsteams.
Ein schönes Beispiel für solche positiven Entwicklungen habe ich bei der Verabschiedung eines langgedienten Führungsbeamten erlebt. In seiner Verabschiedungsrede sagte er: »Noch vor Jahren hieß unser Polizeiseelsorger mit Nachnamen Hasseröder; heute heißen sie Ilse, Packenius oder Kleemann.«
Michael Kleemann
Der Autor ist Superintendent im Kirchenkreis Stendal und seit 1998 Polizeiseelsorger in Stendal.
Festakt zum 25. Jubiläum mit Gottesdienst: 29. März, ab 11 Uhr, St. Sebastian Magdeburg
Autor:Online-Redaktion |
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