Tiere
Unerschütterlich und freundlich
Auf dem Pferderücken raus in die Natur: In der Krise kaufen sich die Leute nicht nur mehr Haustiere, sie suchen auch die Nähe zu Pferden. Ein Besuch auf einem Norweger-Gestüt.
Von Stefanie Walter (epd)
Mirjam Hentschel betritt die Weide, und sofort umringt sie eine Herde Fjordpferde, Mütter mit ihren Fohlen. «Sie sind so menschenbezogen», ruft Hentschel. Lachend schiebt sie ein Pferd weg, wehrt eine neugierige hellbraune Fellnase ab. Mirjam Hentschel züchtet gemeinsam mit ihrer Schwester Angie und ihrem Schwager die norwegische Pferderasse und bildet die Tiere auch aus. Einige Fohlen werden später Therapiepferde sein.
Im Stall oben am Waldrand sitzt ein kleiner Junge auf einer Holzbank und wartet auf seinen Papa. Der Junge hat Sprach- und Bewegungsschwierigkeiten, heute war seine zehnte Therapiestunde. Beim Ausritt im Wald habe er die ganze Zeit geredet, erzählt Hentschel. Zur Reittherapie kommen auch Rollstuhlfahrer, Parkinson-Patienten, Leute mit Depressionen, eine blinde Frau oder ein Mann mit Schädel-Hirn-Trauma, der manchmal schreit. Die Pferde, sagt Mirjam Hentschel, könnten auf ganz vielen Ebenen helfen, das Atemvolumen erhöhe sich, Gelenkschmerzen würden besser, viele seien nach dem Reiten fröhlicher und ausgeglichener: «Da ist nicht ein Patient, bei dem man nichts merkt.»
Die Familie betreibt das Gestüt im Örtchen Friedensdorf im Lahntal nahe Marburg seit 1994. Zum Konzept gehören neben der eigenen Fjordpferdezucht und dem therapeutischen Angebot auch Kurse und Lehrgänge für Reiter ohne Handicap. In der Coronazeit, berichtet Hentschel, sei in allen drei Sparten die Nachfrage nochmals gestiegen.
Verkaufspferde gibt es auf dem Gestüt «Fjellhorn» zurzeit gar keine, für Reitunterricht und Therapiestunden bestehen lange Wartelisten. Mit Regeln war im Lockdown das Reiten eingeschränkt möglich. «Die Eltern haben uns zurückgemeldet, dass das hier der Halt für ihre Kinder war», sagt die gelernte Physiotherapeutin. «Eltern erzählten uns: Die Kinder kommen fröhlich nach Hause.»
Fast alles spielt sich im Gestüt «Fjellhorn» draußen in der Natur ab; die Reithalle nutzen die Fortgeschrittenen. Mirjam Hentschel fällt auf: «Wir haben jetzt viel mehr erwachsene Reiter als zuvor.» Die wollten in einer festen Gruppe reiten, damit sich Freundschaften entwickeln, sie möchten die Natur und die Elemente spüren. «Regen? Da sagen die Leute: Wir wollen trotzdem raus.»
Der Mensch und seine Neigung zur Natur
Einer Umfrage zufolge haben sich während der Corona-Pandemie fünf Millionen Haushalte in Deutschland ein Haustier gekauft. Der Haustierboom überrasche ihn nicht, sagt der österreichische Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal. Die Menschen suchten in der Pandemie nach Sicherheit, Vertrautheit und Unterstützung. «Bei vielen kommt jetzt die Naturorientierung wieder hervor.» Sie zögen aufs Land, legten sich Schrebergärten zu oder kauften sich eben ein Tier.
Kotrschal hat ein Wolfszentrum mitgegründet und erforscht vor allem die Hund-Mensch-Beziehung. Die «Biophilie», die angeborene, instinktive Neigung zur Natur, sei eine in der Evolution angelegte menschliche Universalie, ein menschliches Alleinstellungsmerkmal. Die Beziehung eines Kindes zu Tieren und Natur sei in vielfältiger Weise wichtig für ein glückliches, balanciertes Leben als erwachsener Mensch, schreibt Kotrschal in seinem Buch «Hund und Mensch». Kinder trainierten mit Tieren ihr prosoziales Verhalten, also die Fähigkeit, rücksichtsvoll und kooperativ zu sein.
Zahlen, ob derzeit tatsächlich mehr Pferde gekauft werden, kann die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) nicht nennen. «Aber von Reitstallbesitzern haben wir wiederholt das Feedback bekommen, dass sich in der Tat Privatleute vermehrt Pferde kaufen möchten.» Das könne durchaus mit der emotionalen Vereinsamung durch Corona zusammenhängen. Einer Hochrechnung zufolge befinden sich laut FN in Deutschland etwa 1,25 Millionen Pferde in Privatbesitz.
Pferdeklappe, wenn gar nichts mehr geht
«Es gibt tatsächlich einen Pferdeboom - bei uns.» Petra Teegen betreibt in Norderbrarup in Schleswig-Holstein eine Pferdeklappe. Dorthin können Menschen ihre Pferde bringen, wenn sie einfach nicht mehr weiterwissen. Es würden jetzt doppelt so viele Tiere abgegeben wie vor Corona, sagt die 67-Jährige. Viele kauften Pferde, die krank seien oder mit denen sie nicht klarkämen. Ihre Erfahrung ist: «Die Menschen sind verzweifelt, brauchen etwas Schönes und holen sich ein Tier.»
Petra Teegen fürchtet noch mehr Arbeit für die Pferdeklappe, denn «die dicken Monate kommen erst noch», November, Dezember, wenn die Tiere einen Stall brauchen und mehr Futter. Pferdehaltung ist teuer.
Die Besitzer brächten die Pferde aus purer Not in die Klappe: weil sie arbeitslos geworden sind oder in Kurzarbeit, Corona, Krebs oder Long Covid haben. «Es gibt immer eine Lösung, wenn man eine Lösung will», sagt Teegen.
Auf der Fohlenkoppel des Fjordgestüts Fjellhorn tritt eine Stute nach einem zu frechen Jungtier. Wenn der Nachwuchs ein halbes Jahr alt ist, wird er vorsichtig von der Mutter getrennt. Die Fohlen leben danach auf einer riesigen Weide an der Lahn, in der sie sogar schwimmen gehen. In einer großen Pferdegruppe lernen sie, sich unterzuordnen und nach und nach Verantwortung zu übernehmen. Mit vier Jahren kehren sie zurück zum Stall. Unerschütterlich und freundlich nehmen die Tiere dann ihre Arbeit auf und helfen den Menschen mit ihren Ängsten, Krankheiten, Depressionen und Verletzungen.
Autor:Katja Schmidtke |
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