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Grüne Woche
Verlieren Kinder den Bezug zur Natur?

Schülerinnen und Schüler aus Bremen im biologisch bewirtschafteten Lehr- und Erlebnisgarten "Floratrium" des Landesverbandes der Gartenfreunde Bremen | Foto: epd-bild / Dieter Sell
  • Schülerinnen und Schüler aus Bremen im biologisch bewirtschafteten Lehr- und Erlebnisgarten "Floratrium" des Landesverbandes der Gartenfreunde Bremen
  • Foto: epd-bild / Dieter Sell
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Von Nina Schmedding (kna)

Fünftklässler Murad, 12 Jahre alt, schaut ein wenig skeptisch die behaarten Roggenähren auf dem Tisch an. Ob er schon einmal ein Getreidefeld gesehen habe, fragt ihn die junge Frau am Infostand. "Nein", er schüttelt schüchtern den Kopf. Auch an der nächsten Station ist die Gruppe Jungs zunächst zögerlich. Hier können sie in Getreidemühlen selbst Körner mahlen; oben kommen die Haferkörner rein, dann kurbelt einer - und unten kommen die Haferflocken raus.

Was ist ein Getreidesamen? Woraus besteht Mehl? Wie gewinnt man es? Alles rund ums Brot steht in diesem Jahr im Zentrum auf dem Wissenshof der Grünen Woche. Den kleinen Messe-Bauernhof besuchte am Montag auch Kanzler Olaf Scholz (SPD). Vor allem Schulklassen können sich hier noch bis Ende der Woche lebensnah über landwirtschaftliche Prozesse informieren.

Grundlegende Kenntnisse darüber gehen laut Studien bei Kindern und Jugendlichen kontinuierlich zurück. Der Jugendreport Natur aus dem Jahr 2021 etwa kommt zu dem Schluss, dass nur ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland drei Getreidesorten aufzählen kann.

Dass das Basiswissen oft fehlt - etwa, dass man säen muss, um zu ernten - weiß auch Tobias Wilke vom Verein information.medien.agrar. Der Agrarwissenschaftler leitet regelmäßig den Wissenshof auf der Grünen Woche. "Der Zusammenhang zwischen dem Korn auf dem Feld und dem Dönerbrot wird oft nicht mehr hergestellt."

Seit 50 Jahren nehme das Wissen über landwirtschaftliche Prozesse kontinuierlich ab, sagt der Bildungsreferent. Das betreffe allerdings nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene. Schließlich hätten immer weniger Menschen Gelegenheit, die Leistungen der Landwirtschaft direkt zu erleben und im wahrsten Sinne des Wortes zu erfassen. Die Auswahl in deutschen Supermärkten sei riesig. Wo die Produkte herkämen, werde dagegen oft nicht hinterfragt.

Dies sei nicht nur ein Stadt-Problem, ist Wilke überzeugt: Es arbeiten schließlich auch auf dem Land immer weniger Menschen in der Landwirtschaft. Im Jahr 1900 erzeugte ein Landwirt Nahrungsmittel, die gerade mal für vier Menschen reichten. Entsprechend arbeiteten 60 Prozent der Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft. Inzwischen kann ein Bauer 155 Menschen mit Nahrungsmitteln versorgen. Nur noch 1,5 Prozent der deutschen Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig.

Murads Lehrer Robert Schnorr hat seine fünfte Klasse an diesem Morgen auf die Grüne Woche begleitet, um das Unterrichtsthema "Ernährung" anschaulicher zu machen. Er sagt: "Was ist Getreide, was ist Ackerbau? Hier mangelt es vielen meiner Schüler zum Beispiel schon einfach am Wortschatz." Schnorr ist Lehrer für Gesellschaftswissenschaften an einer Berliner Grundschule in Reinickendorf. 90 Prozent sind hier nichtdeutscher Herkunft, 68 Prozent haben einen Berlin-Pass, das heißt: in der Familie fehlt es an Geld und sie empfängt Sozialleistungen.

Unternehmungen oder gar Reisen kennen diese Kinder nicht, sagt Schnorr. "Dabei lernen sie am meisten, wenn man ihnen etwas Praktisches an die Hand gibt, wenn man was mit ihnen unternimmt. Ihnen fehlt einfach die Lebenserfahrung in der Natur. Das Interesse ist aber da."

Bäckermeister Daniel Plum vom Deutschen Brotinstitut an der nächsten Wissensstation lässt die Jungs erstmal am frisch gebackenen Vollkornbrot schnuppern. "Das riecht doch ganz anders als eine Scheibe Toast", sagt er begeistert, "und gibt euch auch mehr Kraft, wenn ihr Sport treibt."

Dann sollen die Kinder aufzählen, was man zum Brotbacken braucht. Mehl, Salz, Wasser, sagen sie richtig. "Und damit es groß wird und aufgeht - na?", fragt Plum nach und buchstabiert: "H,e...". "Hefe", sagt einer der Jungs schließlich - glücklich, dass ihm das richtige Wort eingefallen ist.

Vor allem Kinder aus bildungsfernen Schichten wüssten wenig über die Zusammenhänge in der Landwirtschaft, sagt Wilke, der Schüler aus unterschiedlichen Milieus und von verschiedenen Schulen auf der Grünen Woche betreut. "Wenn ich zum Beispiel frage, wie viele Eier denn ein Huhn pro Tag legt - dann bekomme ich schon manchmal etwas absurde Antworten. Ich sage dann immer: Zehn Eier passen doch in kein Huhn, das seht ihr doch, das kann doch gar nicht sein."

Dennoch fehle es oft genug auch privilegierteren Kindern an landwirtschaftlichem Fachwissen, betont Wilke. Und auch viele akademisch gebildete Erwachsene könnten - Hand aufs Herz - bei einer Wanderung durch Feld und Wiesen die unterschiedlichen Getreidesorten von Dinkel und Hafer bis Roggen und Weizen vermutlich nicht voneinander unterscheiden.

Mehr Wissen könne auch zu einer höheren Wertschätzung von Landwirtschaft allgemein beitragen, glaubt Wilke. Denn wer weiß schon, wenn er beim Bäcker steht, dass es 400 Roggenpflanzen mit 16.000 Getreidekörnern braucht, um ein kleines Roggenbrot zu backen?

Autor:

Online-Redaktion

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