Von Genussmitteln, Völlerei und dem ökologischen Gewissen
Von Christoph Kuhn
Zum Kaffee, für den sie sich noch Kognak genehmigen, bietet mein Vater seinem Freund Heinz eine »Ernte 23« an. Er selbst stopft sich die Pfeife. Heinz nimmt einen Zug und sagt: »Göttlich! Die ›Ernte 23‹ gehört unbedingt auf den Altarplatz! Na, ›Club‹ tut’s auch, es müssen ja nicht Westzigaretten sein.« Mein Vater nickt, er will auch vom Tabak »Kolumbus« etwas opfern. Sie besprechen, was alles zum Erntedankgottesdienst am Altar liegen soll. Bald sind beide in blauen Dunst gehüllt – ein nicht seltenes Bild der Sechzigerjahre.
Undenkbar: Tabak bei heutigen Erntegaben – in Verpackung mit schreckenserregenden Fotos von Karzinomen und Hinweisen, wie gefährdet Raucher sind. Da werden eher Trinker geduldet. Denn nach biblischer Tradition wird Wein vorwiegend vergoren genossen als eine der schönsten Gaben. Warum nicht auch Weinbrand, Korn und Bier – »flüssiges Brot« – vorm Altar? Maßvoll soll Alkohol nicht ungesund sein. Üblicherweise wird er bei Geselligkeiten (eher privaten als offiziellen) ausgeschenkt (nur trockene Alkoholiker müssen verzichten, sogar auf »Weinbrandbohnen«).
Das Verhältnis zu Genussmitteln ist zeitbedingt, hängt von medizinischen Erkenntnissen und wirtschaftlichen Interessen ab. Aber warum wird zwischen Genuss- und Lebensmitteln unterschieden? Sind Grundnahrungsmittel, Speisen und Getränke, die wirklich gesund sind – Gemüse, Obst, Fisch, Fleisch, Gebäck, Käse, Milch, Saft, sauberes Trinkwasser – nicht auch Mittel des Genusses? Für alles gilt, nicht nur für Drogen und Süßigkeiten: beim Übermaß endet der Genuss, beginnt die Sucht. Schon Paracelsus wusste, dass die Dosis das Gift macht.
In der Wohlstandsgesellschaft wird flüssige und feste Nahrung fast überall und jederzeit angeboten – in ursprünglicher Form samt Zutaten für die eigene Küche, als Mahlzeit im Feinschmeckerrestaurant, als raffiniert beworbenes Fastfood mit Geschmacksverstärkung. Ist billig, geht schnell und ist meistens zu viel.
Neu ist die Sünde der Völlerei, der Gier, der Fresssucht und Sauflust nicht, und der Volksmund weiß: »Eher verdirbt der Übersatte, als wer nichts zu beißen hatte.« Ernährungsbedingte Krankheiten entstehen in reichen Ländern durch Überfluss – in armen durch Mangel. Zur Zeit leiden etwa gleich viel Menschen an Über- wie an Unterernährung. Etwa 24 000 Menschen verhungern täglich.
Mein Vater und sein Freund sprachen wohl nicht über die Grenzen des Wachstums, über zu Ende gehende Ressourcen; über den Schwund an Ackerwildkräutern, Bienen und Vögeln durch intensivierte Agrarindustrie; über Monokultur und gentechnisch manipuliertes Saatgut; über Mastanlagen, qualvolle Tiertransporte und Fließbandtötung im Schlachthof; über arzneiangereichertes Futter; über Nitrat im Trinkwasser.
Giftmengen in der Luft, im Wasser und Erdreich konnten noch nicht so genau gemessen werden. Solche Daten waren vor 50 Jahren überhaupt kein Thema – und später hielt die DDR-Führung sie geheim. »Wachstum und Gedeihen« stand noch mehr »in des Himmels Hand«, wie es im Choral heißt. Und zum Müll kam Nahrung kaum.
Der Nord-Süd-Konflikt zeigte sich damals im Osten weniger gravierend. Heute setzt sich die Erkenntnis durch, dass hiesige Nahrungsmittelproduktion oft zu Lasten von Menschen in südlichen Ländern geht, dass wir auch durch Ausplünderung so gut leben – über unsere Verhältnisse und über die der Erde. Eine grundsätzliche Umkehr zur Biolandwirtschaft ist nicht in Sicht.
Was also legen wir mit ökologischem Gewissen zum Dank an den Altar? Auch Raps-Diesel, Schonkost für Haustiere, Chips und Snacks vom Supermarkt? Erdbeeren, die um den Globus geflogen wurden? Dann wohl doch lieber, neben Produkte aus der Region, auch Tabak aus hiesigem Anbau?
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