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Landtagswahlen
Kirchen rufen zu Flexibilität auf

Foto:  epd-bild / Paul-Philipp Braun

Eine nach den Landtagswahlen

Von Karin Wollschläger (KNA)

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hatte bei der Stimmabgabe am 1. September von einer "Schicksalswahl" gesprochen. Es sei "wahrscheinlich die wichtigste Wahl seit 34 Jahren". Offenbar empfanden das viele so. Mit 74,4 Prozent war es die höchste Wahlbeteiligung bei sächsischen Landtagswahlen seit der Wiedervereinigung 1990. Ähnlich in Thüringen mit 73,6 Prozent; nur 1994 lag sie dort noch 1,2 Prozentpunkte höher. Auch bundesweit gaben bei Landtagswahlen in den vergangenen fünf Jahren nicht so viele Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme ab.

Analysen zeigen aber auch, dass es vor allem die vom Verfassungsschutz in beiden Bundesländern als gesichert rechtsextremistisch eingestufte AfD und der Newcomer BSW waren, die bisherige Nichtwähler mobilisieren konnten. In Thüringen wurde die AfD mit 32,8 Prozent sogar erstmals stärkste Kraft bei einer Landtagswahl. In Sachsen lag sie mit 30,6 Prozent nur 1,3 Prozentpunkte hinter der CDU.

Was zu denken gibt, sind Ergebnisse der Nachwahlbefragung von Infratest dimap: Erstmals wurde die AfD in beiden Ländern mehrheitlich aus Überzeugung (Thüringen: 53 Prozent, Sachsen: 50 Prozent) und nicht aus Enttäuschung gewählt. Insofern ist es fraglich, ob man noch länger von einer "Protestpartei" sprechen kann. Ein Blick auf die Wählerwanderung zeigt, dass die AfD frühere Wähler nur an das BSW abgeben musste.

Zu denken geben sollte auch ein Trend, der schon bei der Europawahl erkennbar war: Die AfD punktet überproportional bei jungen Wählern. In Thüringen stimmten vier von zehn Wahlberechtigten zwischen 18 und 24 Jahren für sie, in Sachsen etwa jeder Dritte.

Der Berliner Politikwissenschaftler Aiko Wagner erklärt das zum einen mit der hohen Präsenz der AfD in den Sozialen Medien, wo sich die Partei "hip, modern und ansprechend" präsentiere. Zum anderen seien jüngere Wähler parteipolitisch ungebunden und "lassen sich stärker von aktuellen Themen und Moden beeinflussen". Das zeige sich aktuell beim vieldiskutierten Thema Migration. Das Thema Klimawandel indes habe seit 2021 deutlich an Relevanz für diese Gruppe eingebüßt, stellt Wahlforscher Roland Abold von Infratest dimap fest.

Die Leipziger Politikwissenschaftlerin Charlotte Meier sprach von einer besorgniserregenden Entwicklung: "Eine Radikalisierung von Jugendlichen darf nicht unterschätzt werden." Die von der AfD verwendete "Wir gegen die"-Rhetorik habe ein starkes Identifikationspotenzial und könne ein Gefühl von Gemeinschaft schaffen. Teil eines "Wir" zu sein, sei besonders für Jugendliche sehr wichtig. "Das wurde in rechten Kreisen gut erkannt. Dort wird aktiv daran gearbeitet, auch junge Menschen mit einzubeziehen."

Noch ein Punkt gibt zu denken: Im Gesamtergebnis votierten in Thüringen über 48 Prozent, in Sachsen über 42 Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht für eine der etablierten demokratischen Kräfte - sondern für Parteien an den Rändern: AfD und BSW. "Das bedeutet eine beachtliche Gefährdung der Demokratie in beiden Bundesländern", sagte der Soziologe Gert Pickel, Vize-Sprecher des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Uni Leipzig, im KNA-Interview.

"Man muss sich klar vor Augen führen, was etwa die AfD umsetzen will: zum Beispiel den Verfassungsschutz und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen. Man kann etwas beobachten, was wir etwa aus Ungarn schon kennen, wo sehr ähnlich argumentiert wird. Es ist eine gegen Vielfalt, Moderne und Demokratie gerichtete Überzeugung." Mit Blick auf die Wahlergebnisse sei der Weg nicht mehr weit zu einer Art Systemwandel.

Diese Befürchtung scheint auch den Hamburger "Verein Sterbehilfe" umzutreiben. Tags nach den Wahlen gab die vom früheren Hamburger Justizsenator Roger Kusch gegründete Initiative eine Pressemitteilung folgenden Inhalts heraus: "In beiden Bundesländern ist die Einbeziehung verfassungsfeindlicher Elemente in die Regierungsbildung denkbar. Damit sind auch die unverbrüchliche Rechtstreue der Ermittlungsbehörden und die Unabhängigkeit der Gerichte in Gefahr. Zum Schutz unserer Mitarbeitenden, Ärztinnen und Ärzte werden wir Suizidhilfe in Sachsen und Thüringen erst wieder anbieten, wenn wir sicher sind, dass in der dortigen Justiz keine rechtsstaatswidrige Willkür um sich greift."

Dass die AfD Regierungsverantwortung erhält, ist indes nicht sonderlich unwahrscheinlich. Sehr deutlich haben alle anderen Parteien zu verstehen gegeben, dass sie mit den Rechtsextremisten nicht koalieren werden. In Thüringen verfügt die AfD jetzt allerdings im Parlament über eine sogenannte Sperrminorität. Damit kann sie alle Entscheidungen blockieren, die eine Zweidrittelmehrheit erfordern - etwa Verfassungsänderungen oder die Einsetzung von Verfassungsrichtern.

Eine regierungsfähige Koalition zu schmieden, ist in beiden Ländern äußerst schwierig. In Sachsen könnte eine sogenannte Brombeer-Koalition aus CDU, BSW und SPD die bisherige "Kenia-Koalition" von CDU, SPD und Grünen ablösen - wiewohl es ein ziemliches Experiment mit drei sehr unterschiedlichen Partnern wäre.

In Thüringen käme "Brombeer" nur auf 44 von 88 Parlamentssitzen. Eine Mehrheit ohne AfD gäbe es nur mit den Linken - doch da steht bei der CDU ein Unvereinbarkeitsbeschluss vor, an den in den ersten Tagen nach der Wahl weder CDU-Parteichef Friedrich Merz noch Landeschef Mario Voigt rühren wollten. Jedoch meldeten sich andere prominente (ostdeutsche) CDU-Stimmen - der frühere Generalsekretär Mario Czaja und die ehemalige Thüringer Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht - und riefen ihre Partei auf, angesichts der schwierigen Lage auch mit den Linken zu sprechen.

Bemerkenswert ist, dass auch die Kirchen in Thüringen in Sachen Regierungsbildung zu mehr Flexibilität aufrufen. Thüringens katholische Bischöfe erklärten: "Wir appellieren an alle demokratischen Parteien, sich zum Wohle unseres Landes rasch auf eine arbeitsfähige Koalition zu einigen, auch jenseits bisher geübter Konstellationen". Und der evangelische Landesbischof Friedrich Kramer sagte: "Um eine Mehrheitsfähigkeit zu ermöglichen, braucht es wohl ein ganz neues Nachdenken darüber und wir ermutigen ausdrücklich dazu, neue Wege zu gehen."

Die Linkspartei nannte dabei keiner beim Namen, aber ohne sie sind Mehrheiten beziehungsweise eine wirklich arbeitsfähige Koalition nicht möglich. Mit dem bisherigen Ministerpräsidenten und bekennenden Protestanten Bodo Ramelow hatten die Kirchen in den vergangenen Jahren auf jeden Fall ein gutes und verlässliches Verhältnis. Er selbst hat bereits angedeutet, an seiner konstruktiven Ablösung aktiv mitzuwirken. Er werde sein Direktmandat entsprechend ausüben, kündigte er an. Hauptsache sei jetzt der Kampf "gegen die Normalisierung des Faschismus".

Autor:

Online-Redaktion

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