Barmer Erklärung
Warnung vor dem Zeitgeist
Am 31. Mai jährt sich die Verabschiedung der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 zum 90. Mal. Sie gilt als Magna Charta der Bekennenden Kirche im Kampf um ihre Unabhängigkeit gegenüber der NS-Diktatur. Das Jubiläum sei ein Grund zum Feiern, sagte der Koblenzer Kirchenhistoriker Thomas Martin Schneider im Gespräch mit Bettina von Clausewitz. Zugleich warnt der Forscher davor, das Dokument als politische Kampfschrift zu vereinnahmen.
Warum wird die Barmer Erklärung 90 Jahre nach ihrer Entstehung immer noch erinnert und gefeiert?
Thomas Martin Schneider: Es ist einer der bekanntesten christlich-kirchlichen Texte des 20. Jahrhunderts mit einer Wirkung weit über die evangelische Kirche und Deutschland hinaus. So hat etwa die Kirche von Südindien (CSI) die Erklärung als Bekenntnis aufgenommen und auch die sogenannte Belhar-Erklärung der Reformierten Kirche in Südafrika 1982 gegen die Apartheid beruft sich darauf. Aber man muss sagen: Die Erklärung hat sich im Laufe der Zeit verselbständigt und ist ganz allgemein als Dokument des kirchlichen Widerstandes in die Geschichte eingegangen. Weltweit sehen viele sich gerne in der Nachfolge und der Tradition dieses prominenten Textes.
Aber was genau hat ihn so prominent gemacht, es gibt ja auch andere?
Es ist tatsächlich nicht der erste Text dieser Art in der turbulenten Zeit der Machtübernahme der Nazis. Die Besonderheit der Barmer Erklärung liegt darin, dass es ein kirchenpolitisches und theologisches Konsenspapier ist. Zum einen von den drei lutherischen sogenannten «intakten Landeskirchen» Bayern, Hannover und Württemberg, wo die «Deutschen Christen» (DC) als nationalsozialistische Kirchenpartei bei den Kirchenwahlen im Juli 1933 nicht die Macht ergreifen konnten - das war der eine Flügel der sich konstituierenden Bekennenden Kirche (BK).
Der andere Flügel in den insgesamt 28 Landeskirchen waren die Bruderräte der «zerstörten Landeskirchen», wo die DC durchschnittlich zwei Drittel der Sitze gewonnen haben. Und in Barmen gelingt jetzt der Zusammenschluss aller, die im kirchlichen Sinne Oppositionelle waren, zu einer Bekenntnisfront. Kirchengeschichtlich ist bedeutsam, dass sich hier erstmals Lutheraner, Reformierte und Unierte zu einer Synode getroffen und eine gemeinsame theologische Erklärung formuliert haben - in Wuppertal, damals eine Hochburg der kirchlichen Opposition.
Wer waren die 139 Delegierten, lauter Männer und eine Frau, waren sie die frühen Helden des kirchlichen Widerstandes gegen die NS-Diktatur?
Viele glauben tatsächlich, dass sie auch im politischen Sinne Widerständler waren, aber wie wir heute wissen, stimmt das nicht. Sie waren in aller Regel deutsch-national und eine ganze Reihe war sogar in der NSDAP. Das ist aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar. Man konnte durchaus politisch mit den Nationalsozialisten sympathisieren und trotzdem sagen: Die Kirche soll Kirche bleiben und darf organisatorisch oder ideologisch nicht gleichgeschaltet werden.
Hat sich dazu nicht auch der Schweizer Theologe Karl Barth später noch mal geäußert, der als Hauptautor der Barmer Erklärung gilt?
Ja genau, er hat etwa 30 Jahre später gesagt, dass die Stimmung der meisten Synodalen war: Um Gottes Willen, wir wollen hier nicht als politische Opposition in Erscheinung treten und illoyal sein. Es geht uns nur um die Kirche. Karl Barth hat natürlich recht, wenn er weiter sagte, dass Barmen dann trotzdem eine politische Wirkung hatte. Man kann nicht unpolitisch sein. Und es war vielleicht ein bisschen blauäugig zu denken, dass es nur um die Kirche gehen könnte. Und zu meinen, eine Großkirche wie die evangelische wäre vom Zugriff ausgenommen, war naiv. Der Staat musste das Treffen als Angriff auf seine totalitäre Ideologie auffassen. In einem System, das erwartet, dass alle sich freudig hinter ihrem Führer versammeln und «Heil Hitler» rufen, wenn man dort stumm bleibt und sagt: «Heil gebührt nur Jesus Christus», dann ist das schon politisch verdächtig.
Die Barmer Erklärung hat sechs Thesen, aus heutiger Sicht ist von einer «fehlenden siebten These» die Rede, warum gibt es keine Abgrenzung vom Antisemitismus?
Das Thema siebte These finde ich fragwürdig, weil das eben einfach nicht im Horizont der Synodalen war. Man kann davon ausgehen, dass es unter den 139 viele gab, die gewisse antijudaistische Vorurteile hatten, wenn sie wohl auch nicht den eliminatorischen Antisemitismus der Nazis geteilt haben. Aber eine siebte These als Abgrenzung vom Judenhass war für die Synodalen nicht dran.
Ein Blick auf heute: Was ist Ihr Anliegen als Kirchenhistoriker, wenn Sie mit Studierenden die Barmer Theologische Erklärung lesen?
Die sind anfangs erstmal ganz enttäuscht und sagen: Das ist doch nur ein ganz normaler frommer Text - wo ist denn das Widerständige, das Besondere? Und ich sage dann: Stimmt, das ist erstmal nur ein Bekenntnis zu evangelischen Grundwahrheiten - allein Christus, allein die Heilige Schrift, Gedanken der Reformation aus dem 16. Jahrhundert. Aber die Message, die ich damit für die Studierenden verbinde, ist: Seid kritisch gegenüber Zeitgeistströmungen, seid kritisch, euch dem Mainstream anzupassen.
Er kann auch dämonisch sein, und das stellt man meist erst später fest.
Für uns ist der Nationalsozialismus heute etwas zutiefst Reaktionäres. Wenn jemand Nazi-Parolen von sich gibt wie Herr Höcke in Thüringen, sagen wir zu Recht, der gehört nicht in unsere Zeit. Aber aus Sicht der Zeitgenossen war der Nationalsozialismus eine progressive Bewegung, es waren viele junge Leute, auch Theologiestudierende und Vikare, die zur NSDAP gingen, während die Älteren oft reservierter waren. Das heißt, die subjektive Wahrnehmung der damaligen Zeit unterscheidet sich enorm von der historischen Bewertung jetzt aus der Rückschau.
Worin sehen Sie die Botschaft von Barmen für Kirche und Gesellschaft heute?
Die Kirche muss sich immer fragen, wo ist unser Proprium, unser Kern, und wo sind wir in der Versuchung, dem Mainstream nachzulaufen. Die Klimaaktivistin Greta Thunberg etwa ist anfangs in Kirchenkreisen oft als Prophetin gefeiert worden. Es hieß sogar: Früher Luther, heute Greta. Aber jetzt habe ich gerade selbst in einer Kirchenzeitung gelesen: Sie sei zur «Judenhasserin» mutiert, weil sie beim Song Contest ESC in Malmö fanatisch gegen eine Teilnehmerin demonstriert hat, die aus Israel kommt. Als Kirchenhistoriker bewerte ich das erstmal nicht, sondern beobachte nur. Aber ich frage: War die Kirche nicht doch etwas voreilig, so eine junge Frau zur Prophetin zu erklären? Und mit Blick auf Barmen würde ich sagen: Da hat man sich in der Bewertung vielleicht zu sehr vom Zeitgeist leiten lassen, davor warnt uns Barmen bis heute.
Autor:Online-Redaktion |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.