Warnungen zum Pogrom-Gedenken
"Keine falsch verstandene Toleranz mit Islamisten"
Von Johannes Senk (kna)
Etwa 2.000 Teilnehmer wurden erwartet, am Ende kamen weit über 8.000 - eine propalästinensische Demonstration in Berlin hat am Wochenende deutlich den Rahmen gesprengt. Die Polizei berichtete von 68 Festnahmen und 36 Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen Volksverhetzung. Ansonsten sei die Stimmung zwar laut, aber nicht aufgeheizt gewesen, erklärten die Behörden.
Bilder von den Menschenmassen in Berlin dominieren dennoch weiterhin die Sozialen Medien in Deutschland. Dabei sind es nicht nur die Waffenstillstandsforderungen, die "Free Palestine"-Rufe und die zahlreichen Flaggen des Autonomiegebietes, die Zivilgesellschaft und Experten Sorgen bereiteten. Dazwischen mischte sich auch deutliche Kritik an Israel, Vorwürfe von Apartheid bis Völkermord. Nicht nur in der Hauptstadt, auch in anderen Großstädten, etwa Düsseldorf und Essen, hatte sich Vergleichbares abgespielt.
Dass mit den zahlreichen und gut besuchten Demonstrationen eine neue Qualität erreicht war, wurde Vertretern aus Politik und Zivilgesellschaft schnell deutlich. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) bezeichnete islamistische Äußerungen, zu denen es etwa bei den Protesten in Essen gekommen sein soll, als inakzeptabel und kündigte noch am Wochenende rechtliche Konsequenzen an.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland forderte ein entschiedeneres Eingreifen gegen Judenfeindlichkeit und anti-israelische Parolen. Es dürfe "keine falsch verstandene Toleranz mit Islamisten" geben. Ähnlich äußerte sich die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland. Es sei "zutiefst beängstigend und beschämend", wenn sich in Deutschland lebende Muslime gemeinsam mit "irrlichternden Unterstützern" zu israelfeindlichen Demonstrationen zusammenfänden. Und: "Zeigt der Staat Schwäche, schweigen weiter muslimische Verbände und säkulare Muslime in diesem Land, begünstigen sie ein weiteres Erstarken rechter, populistischer und radikaler islamistischer Kräfte und schlimmstenfalls Gewalt gegen hier lebenden Juden und Jüdinnen und schließlich die ganze Bevölkerung."
Der Autor Ahmad Mansour bemängelte, dass im Gegenteil zu propalästinensischen Demonstrationen die Solidarität mit Jüdinnen und Juden auf den deutschen Straßen kaum sichtbar sei. "Jetzt ist die Zeit zu handeln", betonte der Psychologe am Montag im ARD-Morgenmagazin.
Tatsächlich zeigt eine aktuelle Abfrage des "Spiegel" in deutschen Großstädten, dass seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober etwa anderthalbmal so viele propalästinensische wie proisraelische Demonstrationen stattgefunden haben. Angemeldet wurden demnach sogar fast doppelt so viele propalästinensische wie proisraelische Demos. Ein Viertel davon wurde verboten, von den proisraelischen jedoch gar keine.
Die Zahlen stützen die Sorgen jener, die im öffentlichen Raum bereits eine Meinungshoheit der Israelfeinde und Antisemiten befürchten. Terrorismus-Forscher Peter Neumann warnt gleichwohl vor Alarmismus. Zwar sieht auch er Antisemitismus insbesondere in migrantischen Gemeinschaften als großes Problem. "Aber nicht jeder, der bei Demos mitmarschiert, palästinensische Fahnen schwenkt oder Videos aus dem Gazastreifen teilt, ist automatisch Antisemit oder Extremist", erklärte der Experte vom Londoner King's College auf X, ehemals Twitter.
Dennoch haftet den Protesten und der wahrgenommenen Bedrohung für jüdisches Leben gerade aktuell eine große Brisanz an. Denn am Donnerstag wird in Deutschland der 85. Jahrestag der Novemberpogrome begangen. Damals zerstörten die Nationalsozialisten Synagogen und jüdische Geschäfte, ermordeten zwischen 400 und 1.300 Juden oder trieben sie in den Suizid. Eine neue Phase der Verfolgung, die im Holocaust endete.
Eine "unheimliche Aktualität" sehen deswegen die evangelischen Bischöfinnen und Bischöfe in den Demonstrationen am Wochenende. "Es ist unerträglich, wenn mitten in deutschen Großstädten antisemitische Parolen gegrölt und plakatiert werden, wenn Synagogen, jüdische Friedhöfe und Mahnmale polizeilich beschützt werden müssen, wenn jüdische Eltern Angst haben, ihre Kinder in Kitas und Schulen zu schicken."
Autor:Katja Schmidtke |
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