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Weihnachten
Sensibles Verkosten statt Komaessen

Gänsebraten im Restaurant des Gänse-Zuchtbetriebs Eskildsen in Königswartha | Foto: epd-bild / Matthias Rietschel
  • Gänsebraten im Restaurant des Gänse-Zuchtbetriebs Eskildsen in Königswartha
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Zimtsterne, Gänsebraten, selbstgebackene Plätzen: In der Advents- und Weihnachtszeit locken viele Leckereien zu übermäßigem Schlemmen. Was ein Gastrokritiker über die Völlerei denkt - nicht nur an Weihnachten.

Von Angelika Prauß (KNA)

Jürgen Dollase ist jemand, der von Berufs wegen oft und viel essen muss. Zugleich beobachtet der Gastrokritiker, wie in der Gesellschaft das Essverhalten bei vielen Menschen völlig entgleitet. Ein Grund für den Gastrokritiker, sich in seinem Buch "Völlerei. Das große Fressen" ebenso kritisch wie launig mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Übermäßiges Essen galt einst als eine der sieben Todsünden, auch weil sie nach christlicher Lesart der geistlichen Konzentration schadet und die Verbindung zum Göttlichen unterbricht. Dollase verweist auf die Wüstenmutter Anna Synkletika, nach der der Kampf gegen die Essgier am Anfang eines spirituellen Weges stehe.

Dabei waren auch Ordensleute keine Kostverächter, wie die Kreativität beim Umgehen der Fastengebote zeigt. Und eine Mahlzeit im mittelalterlichen Kloster Cluny soll über 10.000 Kalorien umfasst haben, wie der Autor bei seiner Recherche erfährt.

Einen Verbündeten in Sachen Genuss findet Dollase zudem in Papst Franziskus. Er zitiert ihn mit den Worten, das Vergnügen des Essens kommt direkt von Gott; völlig auf Genuss zu verzichten sei eine falsche Interpretation der christlichen Botschaft. Vielmehr kommt es wohl auf das rechte Maß an. Das aber scheint vielen komplett abhanden gekommen zu sein. So verstaubt der Begriff  Völlerei auch klingen mag - das Phänomen an sich ist nach der Beobachtung Dollases vermutlich so weit verbreitet wie noch nie in unserer Geschichte.

«Das ist keine religiöse Frage»

Ab den 1950er Jahren habe es in der Gesellschaft ein regelrechtes industrielles Schnellmastprogramm gegeben: Kalorienreiche Nahrung wurde immer günstiger und traf auf vom Krieg ausgemergelte Körper. Seitdem werde zu viel und weit über den Hunger hinaus gegessen. Einige Gründe: die preiswerte Überfülle in Discountern, die Verfügbarkeit von Essen wie Fastfood zu jeder Tages- und Nachtzeit, zu große Vorräte an ungesunder Kost, die dann auch schnell vernichtet werden. Viele Menschen seien diesem Überangebot offensichtlich nicht mehr gewachsen. Es scheint in den Köpfen einen Schaltfehler zu geben... Man kann mehr essen als der Körper (ver-)braucht. Die Folge: heillose Überernährung.

Abgesehen von den schädlichen Folgen für die Gesundheit des Einzelnen hält Dollase maßloses Essen auch global gesehen für verantwortungslos und eine Verschwendung von Ressourcen. Dieser Zusammenhang wird aus Sicht des Restaurantkritikers zu wenig beachtet. Komaessen, bei dem Unmengen von Nahrung verdrückt werden, mag zu früheren Zeiten, wo man nicht wusste, ob und wann es wieder genügend Nahrung geben sollte, sinnvoll gewesen sein, argumentiert Dollase. Irritiert beobachtet er indes, welche Mengen an Essen Menschen heute in Restaurants verdrücken, die für ihre großen Portionen bekannt sind.

Dollase schreibt zugleich vergnüglich über die Berufsbelastungen als Restauranttester. Nicht selten treffe er auf ambitionierte Köche, die den Kritiker neben dem abgesprochenen Menü noch mit weiteren Extras überzeugen möchten. Bisheriger Rekord: 22 Gänge samt passenden Weinen. Dollase stellt klar, dies sei keine in mangelnder Kontrolle herbeigeführte Völlerei um des Essens willen, ungesteuert, ungebremst und suchtartig gewesen; vielmehr habe er sich die ganze Zeit konzentriert mit dem Essen und den vielen Details befasst. "Das Essen war von den Mengen her außer Kontrolle, aber ich war nicht außer Kontrolle." Auch privat gehe es ihm beim Essen um den Geschmack, nicht um die Menge.

Der Gastrokritiker wirbt für maßvollen Genuss und Nahrungsaufnahme als komplexer Form von Wahrnehmung. Es geht ihm um mehr Sensibilität gegenüber dem Essen, auch mit Blick auf Tierwohl und Nachhaltigkeit. Dollase plädiert somit für eine Art von Genuss, mit der wir alle gut leben können. Ein üppiges Menü im Kreis lieber Menschen wie nun bald an Weihnachten hat für Dollase eine eigene Dynamik. Man komme dabei in einen anderen Aggregatszustand, den man auch durchaus auskosten will oder sollte, weil er zu den Besonderheiten im Alltag gehört.

Dollase, Jürgen: Völlerei. Das große Fressen, Hirzel, Stuttgart 2022, 109 Seiten, 15 Euro

Autor:

Katja Schmidtke

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