Unvollständiges Reformationsgedenken
Der Luther-Marathon
Ist das Pulver schon verschossen oder feucht geworden? Mit der 500-Jahr-Feier des Thesenanschlags 2017 hätte das Reformationsgedenken erst losgehen müssen. 2022 bietet die Gelegenheit, sich mit den großen Themen der protestantischen Glaubenslehre auseinanderzusetzen. "Hinsichtlich der Frage nach der Rolle der Kirche in der Gesellschaft böten Gedenkjahre hervorragende Möglichkeiten der Selbstorientierung"
Von Michael Haspel
Von 2008 bis 2017 wurde in Vorbereitung des Reformationsjubiläums die Reformationsdekade aufwendig inszeniert. In einer in der jüngeren Geschichte beispiellosen Kooperation von Bund, Ländern, den evangelischen Kirchen und vielen weiteren zivilgesellschaftlichen, regionalen und kulturellen Organisationen wurde, unterstützt mit erheblichen finanziellen Mitteln, thematisch auf die Reformation vorbereitet. Die dafür eingerichteten Gremien wurden in der Zahl nur noch von Tagungen, Events und Publikationen übertroffen. Diese Vorbereitungsdekade fand ihren Höhe- und Endpunkt zum 500. Jubiläum des Thesenanschlags durch Luther in Wittenberg.
Dann hätte es eigentlich losgehen können. Denn jetzt reihen sich die 500. Jubiläen zentraler reformatorischer Ereignisse aneinander, die nicht nur zum Gedenken einladen, sondern theologische und ethische Auseinandersetzung verdient hätten. Prominent waren im vergangenen Jahr die Jubiläen von Luthers Auftritt auf dem Reichstag, sein Untertauchen auf der Wartburg und die Übersetzung des Neuen Testaments. In Thüringen will man nun der Bibelübersetzung insgesamt in einer Festwoche im September 2022 gedenken. Da war Luther schon wieder in Wittenberg.
Kein Konzept
Sicherlich hat die Corona-Pandemie ein angemessenes Gedenken dieser Ereignisse erschwert, und zumindest in Worms wurde das Reichstags-Jubiläum mit einiger überregionaler Ausstrahlung begangen. Insgesamt jedoch entsteht der Eindruck, dass es kein Konzept gibt, wie die „echte“ Reformationsdekade, die von diesem Jahr bis zur 500-Jahr-Feier des Augsburger Bekenntnisses reicht, gestaltet werden könnte. Aber gerade hinsichtlich der Fragen nach der Kommunikation des Evangeliums, dem kirchlichen Auftrag und der Rolle der Kirche in der Gesellschaft böten die anstehenden Gedenkjahre hervorragende Möglichkeiten der Auseinandersetzung und Selbstorientierung.
1522 hielt Martin Luther in der Schlosskirche zu Weimar zwei Predigten, aus denen seine Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“ (1523) hervorging. Mit der Unterscheidung des weltlichen und geistlichen Regiments entfaltet er eine der Voraussetzungen für den modernen Staat. Zugleich wurde dieser Ansatz im Luthertum zur Zwei-Reiche-Lehre verkürzt, die behauptete, das Evangelium hätte nichts mit Politik zu tun, obwohl Luther die Obrigkeit darauf verpflichtete, für Gerechtigkeit gerade für die Schwachen zu sorgen. Eine bessere Vorlage für die Auseinandersetzung mit Fragen der politischen Ethik in der gegenwärtigen Situation kann es gar nicht geben.
1523 veröffentlichte der Prediger an der Georgenkirche und Eisenacher Reformator Jakob Strauß 51 Artikel gegen den Wucher. Er wendet sich dabei gegen überhöhte Zinsen: auf Geld und auf Land. Diese Artikel richten sich aber nicht etwa gegen Banken und Spekulanten, sondern vor allem gegen die Klöster und Stifte in Eisenach (und anderswo), die Geld und Land für hohe Zinsen verleihen. Die, die kein eigenes Kapital und keinen Landbesitz hatten, gerieten so in Abhängigkeit und oft auch Armut. Vielleicht haben deshalb die Menschen damals in Eisenach und Mitteldeutschland so enthusiastisch auf die Botschaft der Reformatoren gehört, weil die geistliche Freiheit für sie auch Befreiung aus weltlichen Zwängen verhieß. Zinsen, Pacht und Mieten – der Aktualitätsbezug muss nicht erst gesucht werden.
Rechte und Freiheiten
1524 begannen die Aufstände von Bauern, Bergleuten und Stadtbürgern gegen die politische Unterdrückung und ökonomische Ausbeutung durch die Obrigkeiten, gemeinhin Bauernkrieg genannt. Die Forderungen der Aufständischen, bei denen es oft um die Sicherung altangestammter Rechte und Freiheiten, aber auch um das Aufbrechen alter Machthierarchien in den Städten ging, waren berechtigt, mithin moderat. Deshalb ist Luthers Unterstützung der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste nicht nur ethisch und politisch zu kritisieren, sondern auch theologisch problematisch. Schon in seiner sogenannten Freiheitsschrift ist angelegt, dass er nur die geistliche Freiheit für relevant hält, die leibliche aber für unbedeutend für das Heil und deshalb nachrangig. Das ist nicht nur biblisch-theologisch zu hinterfragen, sondern führt faktisch zu einer Legitimation der feudalen Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen. Mit diesem problematischen Muster in Luthers Theologie muss man sich auseinander setzen, wenn man heute den Auftrag des Evangeliums zu Freiheit und Gerechtigkeit gestalten will. Es ist kein Zufall, dass sich im selben Jahr die Auseinandersetzungen mit Karlstadt und dem radikalen Flügel der Reformation zuspitzten und zu deren Ausschluss führten.
Als 1525 Herzog Johann als Nachfolger seines Bruders Friedrich des Weisen Kurfürst wurde und nach Wittenberg/Torgau umzog, führte er im Herrschaftsbereich der Weimarer Residenz die lutherische Reformation verbindlich ein. Das sich daraus entwickelnde und bis 1918 bestehende Staatskirchentum prägt in vielen Bereichen das Staat-Kirche-Verhältnis und die kirchliche Gestalt des Protestantismus in Deutschland bis heute. Faktisch war das so ziemlich das Gegenteil dessen, was Luther mit der Unterscheidung der Regimente intendierte. Darüber hinaus ging die Einführung der Reformation – anders als oft behauptet –nicht mit Toleranz einher. Andersgläubige, also vor allem die, welche weiter der römischen Kirche anhingen, Menschen jüdischen Glaubens oder auch andere reformatorische Richtungen, wie die Täufer, wurden verfolgt oder mussten das reformatorische Territorium verlassen.
Allerdings ordnete Kurfürst Johann für sein Territorium an, die Kirchengüter in einen „Gemeinen Kasten“ zu überführen, der unter kommunaler Aufsicht stand. Daraus sollten die Kosten für Kirchen, Schulen und Wohlfahrtseinrichtungen bestritten werden. Hier liegen die Wurzeln nicht nur des öffentlichen Schulsystems, sondern auch einer Kultur der Alten-, Kranken- und Armenfürsorge in der Verantwortung der öffentlichen Hand, wie sie für Mittel- und Nordeuropa prägend geworden ist.
Last but not least heirateten in diesem Jahr Katharina von Bora und Martin Luther. Was wie ein privates Ereignis klingen mag, veränderte die Rolle der Frau und prägte das Frauen- und Familienbild in den evangelischen Landen nachhaltig. Zwar kann man noch lange nicht von Gleichberechtigung sprechen, aber die Aufgabe der Hausfrau wurde als eigener Beruf angesehen und im Falle der Familie Luther kam es der Führungsaufgabe in einem Kleinbetrieb gleich. Katharina von Bora wurde von Cranach ikonographisch als "role model", als Rollenvorbild der eigenständigen und züchtigen Hausfrau dargestellt. Die Luthers wurden zum Vorbild der bürgerlichen Familie. Dieses Jahr hat es also in sich. Es wurden die Grundeinheiten des Gemeinwesens neu entworfen: Staat, Kirche, Familie und Schule.
Im Jahr 1526 veröffentlicht Luther seine Schrift „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können“. Darin verhandelt er, ob und unter welchen Umständen militärische Kriegsgewalt gerechtfertigt sein könne und ob sich Christen daran beteiligen dürfen oder gar sollen. Angesichts der Debatte um den Afghanistan-Einsatz und eine europäische Sicherheitsarchitektur wäre die Auseinandersetzung mit diesem Dokument eine solide Grundlage für die notwendigen friedensethischen Debatten.1527 gründet Landgraf Philipp I. in Marburg die erste protestantische Universität. Auch hier werden Gebäude und Pfründen vor allem des aufgelösten Dominikanerklosters zur Unterhaltung der Bildungseinrichtung genutzt. Damit setzt Philipp eine beispielhafte Bildungsstrategie um, die darauf zielt, juristisches, theologisches und pädagogisches Fachpersonal zu qualifizieren, das im Geiste der Reformation die Gesellschaft gestalten kann. Ein guter Anlass, um den Bildungsimpuls der Reformation in den Blick zu nehmen, um in Auseinandersetzung damit gegenwärtiges evangelisches Bildungsverständnis zu diskutieren.
Hymne, Brot und Wein
Für das Jahr 1528 findet sich auf vielen Zeittafeln der Reformation kein Eintrag. Dabei wurde in diesem Jahr mit großer Wahrscheinlichkeit das wohl berühmteste Lied Luthers verfasst: Ein feste Burg ist unser Gott. Es wurde zur Hymne der lutherischen Reformation und ist weltweit nicht nur im Luthertum verbreitet. Ein guter Anlass, sich mit dem reformatorischen Kirchenlied im Allgemeinen, aber auch mit diesem Lied im Besonderen zu beschäftigen. Zum Reformationsfest wird es wieder allenthalben erklingen, als ob es nicht in zwei Weltkriegen als Durchhaltegesang missbraucht wurde, indem man den bösen Feind in den anderen sah, sich selbst zum Opfer, das um Gottes Beistand weiß, umdeutete. Manche Tradition kann man eben nicht ungebrochen aktivieren. In diesem Jahr wurde auch die erste „Anleitung zur Einführung von Standards für reformatorische Veränderungen in den Städten und Gemeinden“ – Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherren im Kurfürstentum Sachsen – publiziert. Das Buch fand Anwendung bis nach Skandinavien. Hier könnte lokalgeschichtlich erforscht werden, wann und wie die Reformation in den einzelnen Gemeinden eingeführt wurde.
Wieder nach Marburg führt das Marburger Religionsgespräch 1529. Luther und Zwingli versuchten, sich im Verständnis des Abendmahls zu einigen. Ist Gott im Abendmahl zeichenhaft geistlich gegenwärtig? Oder ist er – so die lutherische Position – tatsächlich in den Elementen Brot und Wein präsent? Eine Frage, die ganz aktuell bei der theologischen Beurteilung von Online-Abendmahlen bedeutsam ist und darüber hinaus für unser Sakramentsverständnis insgesamt.
Kluge Ideen statt Opulenz
Viele dieser Fragen werden aufgenommen und gebündelt im Augsburger Bekenntnis von 1530. Es wurde verfasst, um eine einheitliche Darstellung der reformatorisch-lutherischen Glaubenslehre auf dem Reichstag vertreten zu können. Da es bis heute Grundlage evangelisch-lutherischer Glaubenslehre ist, könnte in diesem Schlussjahr der Dekade eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den großen Themen des Glaubens mit dem Ziel der Aktualisierung für heute stehen.
Um eine solche inhaltliche Reformationsdekade zu gestalten, bedarf es nicht der Opulenz der Vorbereitungsdekade. Ein kluges inhaltliches Konzept und kreative Ideen sind die Voraussetzung. Natürlich sind auch personelle und finanzielle Ressourcen notwendig, um das vorzubereiten, überregional zu vernetzen und umzusetzen. Aber lohnen würde sich es allemal.
Der Autor ist Pfarrer und lehrt Systematische Theologie an den Universitäten in Erfurt und Jena.
Autor:Online-Redaktion |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.