Ukraine und Europa
Krieg hinterlässt Traumata

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Potsdam (epd). Die russische Invasion hinterlässt nach Ansicht des Militärsoziologen Timo Graf tiefe Narben in der gesamten ukrainischen Gesellschaft. Der Krieg finde nicht nur an der Front statt. Nun warnen deutsche Militärexperten vor der russisch-belarussischen Militärübung im September und einer möglichen Ausweitung des Krieges. Die Mehrheit der Deutschen habe die Bedrohung erkannt und trotzdem sei die Gesellschaft verwundbar, sagte der Soziologe vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr im Gespräch mit Moritz Hohmann.
Wie hat sich die ukrainische Gesellschaft verändert, seit Russland sie überfallen hat?
Graf: Krieg ist eine Extremerfahrung für alle Bereiche einer Gesellschaft. Der Schock über die Ereignisse löste einen «Rally-around-the-flag-Effekt» aus: Vor der russischen Invasion war das Vertrauen der ukrainischen Bevölkerung in den Staat und das Militär mäßig ausgeprägt. Nach Kriegsbeginn hat die Gesellschaft die Reihen geschlossen, das Vertrauen in die Regierung und die Streitkräfte stieg. Das Gleiche gilt für die Wehrbereitschaft der Bevölkerung.
Was macht die ständige, kollektive Erfahrung von Verlust, Stress und Schlafmangel mit den Menschen in der Ukraine?
Graf: Der Krieg findet nicht nur an der Front statt, wie oftmals behauptet. Er durchdringt von morgens bis abends das gesamte Leben der Ukrainer. Alle sind der permanenten Bedrohung durch Raketenbeschuss ausgesetzt, alle erleben wirtschaftlichen Stress, Belastungen im sozialen und familiären Bereich. Ein Beispiel: Der ständige Luftalarm ist russischer Terror. Viele Kinder werden durch den permanenten Schlafentzug in ihrer körperlichen Entwicklung gestört, die ständige Angst wirkt sich massiv auf die Psyche aus.
Auch die Frauen und Männer sind mehrfach belastet. In vielen Betrieben fehlt die Hälfte der Mitarbeiter, weil diese Dienst in der Armee leisten. So lastet die Arbeit auf weniger Schultern. Das wiederum wirkt sich auf die wirtschaftliche Leistung des Landes aus.
Darüber hinaus hat ein großer Teil der Bevölkerung Verluste in der Familie hinzunehmen. Neben Gefallenen und Verwundeten meine ich damit auch die millionenfache Flucht. Berufsbiografien werden zerstört, Familien auseinandergerissen, Kinder sind von ihren Vätern getrennt. Der Krieg hinterlässt Traumata, unzählige Narben, die Jahrzehnte brauchen werden, um zu verheilen - wenn überhaupt.
Sind die Ukrainer im Laufe des Krieges widerstandsfähiger geworden?
Graf: Von Bekannten weiß ich beispielsweise, dass viele keine Luftschutzräume mehr aufsuchen, weil sie sich an den Alarm und die Bedrohung gewöhnt haben. Wenn man schon zweimal in der Nacht geweckt worden ist, überlegt man sich gut, ob man noch ein weiteres Mal 14 Stockwerke in den Keller hinabgeht. Sie leiten aus den Hunderten Luftangriffen zuvor schlicht die statistische Wahrscheinlichkeit ab, dass sie auch bei diesem Mal nicht getroffen werden. Darüber hinaus halten viele ihre sozialen Kontakte aufrecht, gehen in Cafés oder auf Partys. Das wird den Ukrainern auch im deutschen Diskurs häufig negativ ausgelegt. Nach dem Motto: So schlimm kann es dann doch gar nicht sein. Aber man muss verstehen, dass dieser mitunter krampfhafte Versuch, Normalität zu leben auch eine Art kollektiver Traumabewältigung sein kann. Momente der Freude, der Ablenkung und des Genusses können überlebenswichtig sein.
Daneben organisiert die Gesellschaft aktiv den Widerstand.
Graf: Ja, und das auch ganz bewusst auch in Besinnung auf die eigene Kultur, die eigenen Werte und in Abgrenzung zum Aggressor Russland. Viele Menschen durchleben im Angesicht des Krieges einen
Einstellungswandel: Die Wehrbereitschaft ist gestiegen, aber ebenso muss man anerkennen, dass einige, die in den Umfragen vor der Invasion angegeben haben, dass sie bereit wären, in einem solchen Fall für das Land Militärdienst zu leisten, davon Abstand genommen haben. Das hängt stark von der individuellen Betroffenheit ab, und auch davon, wie der Aggressor selbst agiert. Wenn Kriegsverbrechen bekannt werden, greift das die «Seele der Nation» an. Das ruft eine andere Wehrbereitschaft auf, als wenn sich der Feind an gewisse Grundregeln des Krieges und das Völkerrecht hält - beides tut Russland nicht.
Der Militärhistoriker Sönke Neitzel und Russlandexpertin Sabine Adler warnten jüngst vor der russisch-belarussischen Militärübung im September. Russland könne versuchen, die Nato zu testen. Wie vorbereitet sind die Deutschen?
Graf: Wir haben jahrzehntelang im Frieden gelebt und jedes tatsächliche Verständnis für die Entbehrungen, den Schmerz und Leid, das mit einem Krieg einhergeht, verloren. Abstrakt kann man sich das nicht vorstellen. Von daher würde ich mal behaupten, dass wir rein emotional nicht vorbereitet sind. Strukturell-staatlich kann sich eine Gesellschaft auf den Krieg vorbereiten. Zum einen ist es der Auftrag unseres Staates, die Verteidigungsfähigkeit zu gewährleisten.
Das geht aber über Investitionen in die Bundeswehr hinaus: Stichwort Gesamtverteidigung. Alle müssen ein gemeinsames Verständnis dafür teilen, welchen Bedrohungen wir gegenüberstehen und was im Ernstfall zu tun ist. Jeder Einzelne muss sich im Sinne der geistigen Landesverteidigung mit den geopolitischen Realitäten auseinandersetzen. Es gilt, das Wunschdenken abzulegen. Wir können nur noch den «Worst-Case» planen. Russland hat der europäischen Gesellschafts- und Sicherheitsordnung den Krieg erklärt. Wir müssen jetzt handeln, damit es nicht zu einem Krieg kommt.
Wo ist die deutsche Gesellschaft im Kriegsfall besonders verwundbar?
Graf: Ich bin kein Experte für Infrastruktur oder militärische Sicherheit. Was mir als Soziologen Sorgen bereitet, ist der Zusammenhalt der Gesellschaft. Bei den jüngsten Bundestagswahlen haben Parteien zugelegt, die nicht wollen, dass Deutschland sich verteidigungsfähig aufstellt, die dafür werben, dass wir uns dem Aggressor Russland annähern und die das Opfer, die Ukraine, im Stich lassen wollen. Die Zerfaserung unseres politischen Spektrums und das Erstarken radikaler Parteien macht uns von innen und außen verwundbarer. Immerhin nehmen 65 Prozent der deutschen Bürger Russland als Bedrohung wahr. Das bedeutet aber auch, dass ein Drittel nicht verstanden hat, dass ein Land, das in seinen halb-offiziellen Propagandashows davon schwadroniert, dass man England mit Atomwaffen vernichten sollte und bis wann man mit Panzertruppen nach Berlin vormarschieren könne, eine existenzielle Gefahr für uns darstellt.
Ich zweifle daran, dass diese Menschen bei zivilen Schutzmaßnahmen mitmachen würden. Wir müssen mit Protest rechnen, wenn größere Bundeswehr-Einheiten verlegt werden würden, von Sabotage möchte ich gar nicht sprechen. Auch das könnten externe Akteure ausnutzen. Wir können es uns schlicht nicht mehr leisten, dass beispielsweise Jugendoffiziere an Schulen ihrem Informationsauftrag nicht nachkommen können, weil sich Lehrerverbände dagegen wehren.
Dabei sind die Deutschen mehrheitlich keine Pazifisten.
Graf: Das ist richtig, aber eine verbreitete Fehlannahme. Sie sind und waren es mehrheitlich nicht. Das drückt sich auch in Zahlen aus: 60 Prozent sind aktuell für höhere Verteidigungsausgaben und 80 Prozent haben eine positive Meinung über die Bundeswehr. Der Zuspruch zu ihrem Kernauftrag, der Landes- und Bündnisverteidigung inklusive der Anwendung von Waffengewalt, ist seit 2022 stark gestiegen und genießt die Zustimmung einer absoluten Mehrheit in der Bevölkerung.
60 Prozent der Männer geben an, mit der Waffe kämpfen zu wollen, sollte es zu einem militärischen Angriff auf Deutschland kommen. Das Narrativ einer mehrheitlich pazifistischen Gesellschaft ist nicht nur empirisch falsch, sondern auch gefährlich, denn viele Verantwortungsträger treffen ihre Entscheidungen auf Basis dieser Annahme. Das hat zumindest in der Vergangenheit zu einer fatalen Politik der Selbstabschreckung geführt.
Autor:Online-Redaktion |
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