Asyl
"Menschen werden wie Amazon-Retouren verschoben"
Seit 40 Jahren gibt es in Deutschland die Kirchenasylbewegung. Dietlind Jochims, Flüchtlingsbeauftragte der evangelischen Nordkirche und Vorstandsvorsitzende der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche (BAG), sieht darin einen Grund zum Feiern. Ein unbeschwertes Feiern sei es allerdings nicht, sagt sie im Gespräch Marcel Maack.
Wie viele Kirchenasyle werden in Deutschland aktuell gewährt?
Dietlind Jochims: Wir wissen von aktuell 431 aktiven Kirchenasylen mit mindestens 655 Personen, davon sind etwa 136 Kinder. 405 der Kirchenasyle sind sogenannte Dublin-Fälle.
Können Sie beispielhaft ein Schicksal nennen?
Ich kann Ihnen von einem afghanischen Vater mit kleinem Sohn erzählen, ein Dublin-Fall. Der Mann erlebte in Kroatien mehrfach Pushbacks, massive Gewalt, ihm wurden das Handy und alle Barmittel abgenommen. Nach Monaten gelang ihm die Weiterflucht nach Deutschland. Sein Kind ist durch die Ereignisse stark traumatisiert: Es zittert beim Erzählen, beginnt zu weinen und nässt sich seitdem ein, wenn es Männer in Uniform sieht.
Wie gehen Sie mit den Schilderungen Geflüchteter um?
Es bestürzt mich, wenn ich sehe, wie viele Menschen mit ihren Hoffnungen auf Schutz und Sicherheit in Europa diese nicht nur nicht finden, sondern erneut Gewalt erfahren und Entrechtung erleiden müssen. Mich macht wütend, wie verbreitet, bekannt und hingenommen Gewalt in Europa inzwischen ist, wenn es darum geht, Geflüchtete fernzuhalten, abzuschrecken und ihnen die Würde zu nehmen; wenn Menschen über viele Jahre innerhalb Europas wie Amazon-Retouren hin und her verschoben und hier in Europa traumatisiert werden; wenn ein palliativ zu betreuendes Kind kurz vor seinem Lebensende noch mit seiner Familie abgeschoben werden soll.
Wie gehen Behörden damit um, dass Kirchengemeinden Kirchenasyl gewähren?
Es gibt eine große Bandbreite von Reaktionen - von offener Ablehnung bis hin zu Erleichterung, dass Kirchen hier etwas tun, was staatliche Organe nicht tun können. Im Allgemeinen trägt die Toleranz (Akzeptanz) von Kirchenasyl, es ist aber zu beobachten, dass der Gegenwind schärfer wird.
Leider sind die meisten der Gesprächskanäle, über die lange zwischen Behörden und Kirchen um Lösungen gestritten werden konnte, inzwischen inaktiv. Kirchenasylbewegung und kirchliche Institutionen sind aber weiter sehr interessiert an Gesprächen zum Finden von guten Lösungen.
Die sogenannte Vereinbarung vom Februar 2015, eine Verfahrensabsprache zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und Kirchen, ist mehrfach einseitig vom BAMF verändert worden und es bräuchte auch hier dringend neue Gesprächsrunden.
Wann hat es zuletzt Versuche gegeben, Kirchenasyle zu brechen?
Es hat gerade in den letzten Wochen mehrere Versuche gegeben, Abschiebungen aus dem Kirchenasyl durchzusetzen. In Nordrhein-Westfalen ist in einem Fall in die Kirche eingedrungen worden, das Ehepaar im Kirchenasyl wurde in Abschiebehaft genommen. Nach breiten Protesten wurde die Abschiebung nicht vollzogen und das Ehepaar konnte ins Kirchenasyl zurückkehren. Wir fordern und hoffen sehr, dass der Schutzraum Kirchenasyl (auch) zukünftig respektiert wird.
Kommt es zu Strafanzeigen gegen Geistliche? Und wie gehen Gerichte damit um?
Strafanzeigen gegen Kirchenasyl gewährende Gemeinden gab es in den letzten Jahren fast ausschließlich in Bayern. Der Vorwurf lautete auf Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt. 2022/23 gab es mehrere viel beachtete Gerichtsentscheidungen. Seitdem kann nach aktueller Rechtssprechung von einer strafbaren Handlung der Geistlichen/der Gemeinden nicht mehr gesprochen werden. Die Zahl der Strafanzeigen gegen Gemeinden in Bayern ist daraufhin stark zurückgegangen. Leider erhalten die Geflüchteten im Kirchenasyl aber in Bayern nach wie vor Strafanzeigen wegen unerlaubten Aufenthaltes. Hier versuchen wir als BAG, mit rechtlicher Beratung zu unterstützen.
Welches sind die größten Erfolge der BAG?
Ein großer Erfolg, der auch der Kirchenasylbewegung zuzurechnen ist, war die Einrichtung der Härtefallkommissionen in jedem Bundesland 2005/2006. Es kann auch in einem demokratischen Rechtsstaat Situationen geben, in denen rechtsstaatliche Entscheidungen dem Einzelfall nicht gerecht werden. In solchen besonderen Fällen Möglichkeiten zu schaffen, eine neuerliche Prüfung vorzunehmen, mit dem Ziel, zu guten humanitären Lösungen zu kommen, ist mit Einrichtung der Härtefallkommissionen institutionalisiert. Dublin-Fälle allerdings fallen in fast allen Bundesländern nicht unter die Zuständigkeit dieser Kommissionen.
Welche staatlichen Maßnahmen wünschen Sie sich?
Aufgabe der europäischen Staatengemeinschaft wäre es, das dysfunktionale Dublin-System in Richtung eines echten Flüchtlingsschutzes zu ändern, statt wie im Juni beschlossen, die Abschottung Europas auszuweiten.
Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat sich dafür ausgesprochen, die Regeln für die Abschiebung ausreisepflichtiger Ausländer zu verschärfen.
Ich halte diese Debatte für eine Scheindebatte. Eine Verschärfung von Regeln wird das Vollzugsdefizit nicht lösen. Maßnahmen wie eine Erleichterung und Ausweitung von Abschiebehaft sind ineffizient, sehr teuer, häufig nicht rechtskonform und grundsätzlich abzulehnen.
Andere gesetzliche Regelungen und Vorhaben der Bundesregierung haben da eine ungleich sinnvollere Richtung - das Chancenaufenthaltsrecht zum Beispiel oder auch die Ausbildungs- oder Beschäftigungsduldung. Auch eine Ausweitung legaler Zuwanderungsmöglichkeiten neben dem Asylsystem würde mittelfristig die Behörden entlasten.
Und schließlich, auch wenn es mit dem Asylsystem nicht unmittelbar in Verbindung gebracht werden sollte: Wir brauchen in Deutschland nicht mehr nur Fach-, sondern ganz normale Arbeitskräfte, und zwar mehrere hunderttausend pro Jahr. Da würde es doch schon ökonomisch viel mehr Sinn machen, auch abgelehnten oder ausreisepflichtigen Asylsuchenden die Möglichkeit zum Arbeiten und Teilhaben zu ermöglichen.
Wie beurteilen Sie das Stimmungsbild der Bevölkerung in Deutschland, was Asylsuchende betrifft? Wie hat sich das Bild in den zurückliegenden Jahren verändert?
Das Narrativ ändert sich und ist nicht einheitlich. Während die Schutzsuchenden aus der Ukraine nach wie vor selbstverständlich und mit hoher Rechtssicherheit aufgenommen werden, hat sich die Stimmung anderen Geflüchteten gegenüber verändert. Auch der politische Sprech der demokratischen politischen Parteien, auch der Bundesregierung, hat sich verändert. Bestehende Herausforderungen (Wohnungsbau, Lehrkräftemangel) werden verkürzt mit der Zahl der Geflüchteten in Verbindung gebracht. Die Rede von „den vielen ohne Bleiberecht“ verfestigt sich, obwohl die Quote der Schutzerteilungen hoch ist wie nie.
Nach wie vor gibt es die aktive Zivilgesellschaft, die vermutlich kleiner geworden ist, sicher aber weniger gehört wird. Unser Bildungsauftrag ist, nicht nachzulassen bei guter Information, dem Verweis auf die universal geltenden Menschenrechte und die Verpflichtung auf die Umsetzung europäischer Werte von Humanität und Sicherheit.
Autor:Katja Schmidtke |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.