Theater
"Wir wollten ja nur eins: Freiheit"
Die Geschehnisse veränderten die Welt: Als im Herbst 1989 Tausende DDR-Bürger über die deutsche Botschaft in Prag die Flucht in die Freiheit antraten, war der Fall der Mauer nicht mehr weit. Jetzt kommen die dramatischen Ereignisse auf die Bühne.
Von Dieter Sell (epd)
Das Publikum drängelt sich vor der Treppe in den Waggon. Auch drinnen herrscht beklemmende Enge. Dazu ein uniformierter Typ, der die Menschen auf den Bänken im Zug mit finsterem Blick mustert. Unsicherheit und Ängste machen sich breit. Laute Rufe, erschreckte Gesichter. Die Premierengäste des Dokumentartheaters „Über den Zaun“ spüren in Geestenseth bei Bremerhaven in dieser Szene ein wenig von dem, was die Menschen aus der DDR erlebt haben müssen, die 1989 über die Prager Botschaft in den Westen geflüchtet sind.
Die niedersächsische Künstlergruppe „Das Letzte Kleinod“ widmet sich in ihrem neuesten Stück einem besonderen Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte. Im September 1989 kletterten Tausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger über den drei Meter hohen Zaun der deutschen Botschaft in Prag, um so ihre Ausreise in den Westen zu erzwingen. Die Auslandsvertretung verwandelte sich innerhalb weniger Tage in ein Flüchtlingslager: Frauen und Kinder wurden in den Räumen der Botschaft untergebracht, für die Männer stellte das Rote Kreuz Klappbetten unter freiem Himmel auf.
Aus der Nachbarschaft wurden Lebensmittel durch den Zaun gereicht. Die Lage spitzte sich zu, am Ende kampierten 4.000 Personen im Garten der Botschaft, in dem teilweise knöcheltief der Schlamm stand. Regisseur Jens-Erwin Siemssen inszeniert dieses Geschehen nach den Erzählungen von Zeitzeugen. Geflüchtete, Botschaftsangehörige, Rote-Kreuz-Helferinnen, Nachbarn des Botschaftsviertels und Eisenbahner erinnern sich in fünf Bildern an das, was damals passiert ist. Geprobt wurde zeitweise am Originalschauplatz im Garten der Prager Botschaft.
Ein großer Vorteil dabei: Das „Kleinod“ verfügt über Deutschlands einzigen Theaterzug - und nutzt die Waggons auch als atmosphärisch aufgeladene Bühne für das Stück. Denn schließlich gelang die Ausreise der Flüchtlinge in Reisezügen, die durch das Staatsgebiet der DDR fuhren und schließlich unter Tränen und Jubel im Bahnhof der damaligen bayerischen Grenzstadt Hof ankamen.
„Wir wollten ja nur eins: Freiheit“, heißt es zur Begründung für alle Strapazen in einer Szene des Stückes, das über 90 Minuten größtenteils unter freiem Himmel läuft. Und von den Strapazen gab es viele: Die Furcht, auf dem Weg zur Botschaft noch abgefangen zu werden, der hohe Zaun an der Botschaft, Kälte, Nässe und die sanitären Zustände auf dem Botschaftsgelände. „Hygienisch gesehen war das eine Katastrophe“, ruft ein Ensemblemitglied dem Publikum zu: „Aber wir haben alle gleich gestunken, war eigentlich wurscht.“
Schließlich läuft alles auf die Szene zu, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben hat: Am 30. September 1989 trifft der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) in der damaligen tschechoslowakischen Hauptstadt ein, um vom Balkon der deutschen Botschaft zu verkünden: „Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ...“ - der Rest ging im Jubel der Masse unter. Ein Moment für die Ewigkeit. Zwei Monate später fiel die Mauer.
Das Publikum erlebt das Stück bis auf den Abschluss in Gruppen, die im Verlauf von Szene zu Szene wechseln. Wie immer bei den Inszenierungen der Künstlergruppe gibt es ein Bühnenbild, das einzelne Objekte in den Mittelpunkt rückt. Dazu gehören unter anderem Absperrgitter, Zelte und Bänke, wie sie im September 1989 auch auf dem Botschaftsgelände zu finden waren. Und natürlich der Trabi, der auf einem Flachwaggon steht.
Die Premiere war Auftakt für eine Tour, die die Inszenierung auch in die ostdeutschen Bundesländer führt. Bis zum 4. Juli sollen sich weitere Termine in Worpswede, Helmstedt, Halberstadt, Stützerbach, Finsterwalde, Fürstenwalde, Frankfurt/Oder, Magdeburg und Salzwedel anschließen. Siemssen ist gespannt auf die Reaktion des Publikums in den unterschiedlichen Orten. Es sei jedenfalls „ein hochemotionales Thema“ als sich von einem Moment auf den anderen im Herbst 1989 in Prag ein Loch im Eisernen Vorhang für die Flucht in die Freiheit öffnete. Daran erinnert sich der Regisseur auch selbst: „Ich habe geweint, als es passiert ist.“
Autor:Katja Schmidtke |
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