Stressfaktor Migration
Alles neu, alles fremd

Irregulären Migration: Grenzkontrolle an der deutsch-dänischen Bundesgrenze im September 2024. | Foto:  epd-bild/Tim Riediger
  • Irregulären Migration: Grenzkontrolle an der deutsch-dänischen Bundesgrenze im September 2024.
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"Woran merken Sie, dass Sie Stress haben", fragt Farzin Akbari Kenari. Der aus dem Iran stammende Psychologe blickt in die Runde im Willkommenszentrum für Migranten der Stadt Leipzig. Zwei Stunden lang soll es um Migration und seelische Gesundheit gehen. "Ich bin gereizt, kann schlecht schlafen, habe Rückenschmerzen", berichtet Fatima, eine junge Frau aus Afghanistan, auf Farsi; Kenari übersetzt für die Gruppe. Und was ist Stress? "Life", antwortet sie prompt und seufzt. Eine vietnamesische Mutter, deren Teenager-Tochter übersetzt, nickt.

Von Karin Wollschläger (kna)

Kenari zeigt den Teilnehmenden Atemübungen, gibt praktische Tipps zum Umgang mit Stress: Bewegung, Meditation, gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf, positive Erlebnisse schaffen und sich etwas Gutes tun, sich mit Freunden austauschen. "Letztlich ist es ganz individuell - es gibt kein Patentrezept, jeder und jede muss es für sich herausfinden", erklärt der Referent der Kultursensiblen Gesundheitslotsen Leipzig (KuGeL), der ansonsten am Sankt Georg Klinikum der Stadt arbeitet.

Verlusterfahrung und Entwurzelung

Und dann schwenkt er zu den besonderen Stressfaktoren, die mit Migration und Flucht verbunden sind: Verlusterfahrung, Entwurzelung, Kulturschock, enttäuschte Hoffnungen und Erwartungen vor und nach der Migration, existenzielle Unsicherheit, unsicherer Aufenthaltsstatus, kein oder eingeschränkter Zugang zu Arbeit, Bildung und medizinischer Versorgung, schlechte Wohnbedingungen, etwa in Gemeinschaftsunterkünften. "Alles ist neu und fremd: die Sprache, die Kultur, das Klima. Das ist Stress pur", sagt Kenari. Er kennt es aus eigener Erfahrung. Vor über 20 Jahren flüchtete er aus dem Iran, wo er als Psychologe an einer Teheraner Klinik tätig war. Zunächst für drei Jahre nach Rumänien, dann kam er Deutschland.

Kenari erläutert das Phänomen "Migrationstrauer": Mit der oft unfreiwilligen Migration einher gingen Verlust und Trennung: Heimat, Beziehungen, Status, Selbstbewusstsein, Identität. Die natürliche Reaktion: Trauer. "Das kann viele Ausprägungen haben: Sehnsucht, Heimweh, Einsamkeit, Traurigkeit - was sich oft dann auch in körperlichen Symptomen ausdrückt, ausgelöst durch diesen ganz besonderen Stress", so Kenari. Fatima nickt: "Ich habe mich hierher gerettet, ich habe es geschafft, aber all die anderen nicht... meine Familie, meine Freunde, die immer noch in Afghanistan sind... das ist sehr hart, ich muss immer daran denken."

Ein junger Musiker, der vor neun Jahren aus Taiwan zum Studium nach Österreich kam und jetzt in Deutschland lebt, erzählt: "Heute beginnt das chinesische Neujahr, ein großer Feiertag in meiner Kultur - ich habe mit meiner Familie telefoniert und war danach sehr traurig. Sie fehlen mir." Eigentlich sei er gut integriert, spreche die Sprache, habe neue Freunde gefunden. Aber in solchen besonderen Situationen bricht die Sehnsucht sich ihre Bahn.

Alles erreicht - die Trauer kommt zurück

Kenari nickt und erläutert den Anwesenden, dass das eine ganz normale Reaktion ist: "Die Entwurzelung wirkt lange nach. Und oftmals schlägt sie auch noch zehn Jahre später - trotz guter Integration - plötzlich wieder stärker durch." In der Anfangsphase nach einer Migration oder Flucht sei zwar der Stress hoch, aber bei vielen auch die Motivation: Man will möglichst schnell die Sprache lernen, Arbeit finden, sich integrieren. "Ist das alles erreicht und es kehrt wieder etwas Ruhe ein, kann es gut sein, dass die tiefe Entwurzelungserfahrung wieder stärker ins Bewusstsein rückt und Raum einnimmt."

Doch was hilft bei Migrationstrauer und Kulturschock? "Wichtig ist, sich bewusst zu machen: Ein Kulturschock ist normal", sagt Kenari. Er zeigt eine Folie mit Tipps: geduldig sein, Unsicherheiten ansprechen, beobachten und zuhören, mutig sein, nach Erklärungen fragen, sich mit anderen austauschen, sich "Inseln der Vertrautheit" schaffen, positiv denken, Tagebuch schreiben und Neues ausprobieren, den Glauben als Kraftquelle nutzen. Vieles sei leichter gesagt als getan, räumt der Psychologe ein, betont aber zugleich: "Keiner muss da alleine durch - es gibt viele Hilfsangebote und Netzwerke."

Und er gibt Hinweise auf mehrsprachige Angebote in der Stadt, aber auch im Internet sowie telefonische Hotlines. Viel Krankenkassen übernehmen die Kosten für Entspannungskurse, viele Volkshochschulen bieten verschiedenes mit Blick auf seelische Gesundheit. Kenari verweist auch auf die kostenlosen Beratungen etwa von Caritas und Diakonie, aber auch auf Opferberatungen und Antidiskriminierungsstellen für Betroffene von Rassismus - einem zusätzlichen Stressfaktor für viele Migranten.

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