Bartning-Notkirche № 2
Die Justus-Jonas-Kirche Nordhausen-Niedersalza
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind in Deutschland im Jahr 1945 zahlreiche Kirchen beschädigt oder zerstört. Zugleich kommen als Folge des Zweiten Weltkriegs mehr als 4,3 Millionen Vertriebene in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ, ab 1949: DDR). Die meisten von ihnen sind katholischen oder evangelischen Glaubens – und suchen eine neue Heimstatt für ihren Glauben. Was also tun?
Ein Versuch der Problemlösung sind die sogenannten „Notkirchen“ oder Bartning-Kirchen. Um diese Bauwerke in Mitteldeutschland und darüber hinaus geht es in dieser kleinen Serie. Heute: die Justus-Jonas-Kirche Nordhausen-Niedersalza, eine jener Bartning-Notkirchen.
Die evangelisch-lutherische Justus-Jonas-Kirche steht in Nordhausens Siedlung Niedersalza im Freistaat Thüringen. Sie wurde 1950 als Notkirche ohne Kirchturm errichtet und ist die einzige der sogenannten Bartning-Notkirchen sowohl in Thüringen als auch im Harzraum.
Der Sakralbau erhielt den Namen des in Nordhausen geborenen Reformators Justus Jonas (1493–1555). Seine Kirchengemeinde gehört zum Kirchenkreis Südharz der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland.
Bauwerk und Geschichte
Nach den Luftangriffen auf Nordhausen im April 1945 und der Zerstörung zahlreicher Kirchen engagierte sich das Notkirchenprogramm des Evangelischen Hilfswerks für den schnellen Bau einer kleinen Kirche ohne Turm im Stadtteil Salza in der Siedlung Niedersalza.
Die international unterstützte Aktion erstreckte sich über alle deutschen Besatzungszonen und basiert auf drei Typen. Das von Otto Bartning und Otto Dörzbach entwickelte Bauprogramm nutzte Erfahrungen, die sie im Montage- und Systembau von 1928 bis 1932 gemacht hatten.
In Nordhausen steht eine von 41 Kirchen des „Typs B“ mit polygonalem Altarraum und hat 500 Sitzplätze. Die Spendenmittel für dieses Gotteshaus betrugen rund 50.000 D-Mark vom Evangelischen Hilfswerk und etwa 10.000 US-Dollar vom Lutherischen Weltkonvent.
Die Materialengpässe der Nachkriegszeit zwangen zu einer optimierten Bauweise; die Konstruktion besteht aus vorgefertigten Holzbindern aus dem Hallenbau, Dachtafeln sowie normierten Fenstern und Türen. Die Hallenbinder rhythmisieren den Innenraum und lassen Wand und Dachunterschicht zusammenfließen.
Ausgemauert wurde mit gesäuberten Ziegeln aus Kriegsruinen der Stadt.
Als Standort der neuen Kirche wurde der westliche Stadtteil Niedersalza (Salza) gewählt, als dort ein neues Wohnviertel entstand. Im Frühjahr 1949 erwarb die Kirchengemeinde nach Beschluss der Stadtverordneten-Versammlung das Grundstück Hüpedenweg 54.
Der Sakralbau erhielt den Namen des in Nordhausen geborenen Reformators Justus Jonas (1493–1555), eines Freundes von Martin Luther. Der Grundstein wurde am 9. Dezember 1949 gelegt, Einweihung war am 9. Juli 1950 mit Bischof Müller aus Magdeburg.
Der bisherige Pfarrbezirk Nikolai-West wurde mit einigen Erweiterungen umbenannt in „Justus-Jonas-Kirchengemeinde“.
Ausstattung
Als besonderes Geschenk erhielt die Gemeinde das bronzene Taufbecken aus der bei den Bombenangriffen der Royal Air Force auf Nordhausen am 3. und 4. April 1945 stark beschädigten Petrikirche, die später gesprengt wurde. Die Zeit überdauert hat der inzwischen sanierte Petri-Turm – er dient heute als Aussichtsturm auf dem Petersberg.
Das Taufbecken stammt aus dem Jahr 1429 und steht im Chorraum. Es ist 84 Zentimeter hoch und 68 Zentimeter im Durchmesser, sein Volumen beträgt stolze 90 Liter. Das Gefäß – die Kuppa – tragen vier bärtige Männer in der Kleidung des 15. Jahrhunderts. Ein Schriftband in gotisch gestalteter Schrift ziert den unteren Rand und verrät das Entstehungsjahr.
Maßwerkblenden teilen die Außenfläche des Taufbeckens in 16 Felder. Darin sind als Hochrelief biblische Figuren zu erkennen – so etwa Johannes der Täufer, Petrus, Paulus, Jakobus und Laurentius. Die Kirchenglocke stammt ebenfalls aus der Petrikirche.
Die spendenfinanzierte Orgel wurde 1953 von den Gebrüdern Jehmlich aus Dresden gebaut und 1966 auf 12 Register ergänzt. Das Kruzifix im Vorraum erwarb die Gemeinde 1958, geschaffen vom blinden Künstler Dario Malkowski (1926–2017).
Bartning-Kirchen
Die Bartning-Notkirchen entstanden aufgrund des Kirchbauprogramms des Evangelischen Hilfswerks, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Architekt Otto Bartning entwickelte. Otto Bartning (1883–1959) war ein bedeutender Architekt des vorigen Jahrhunderts, nach dessen Plänen zahlreiche Kirchen erbaut wurden.
Das Programm hatte zum Ziel, den Mangel an gottesdienstlichen Räumen zu lindern. Ursachen waren die Zerstörung vieler Kirchen im Zweiten Weltkrieg und der Zuzug von Millionen christlichen Flüchtlingen aufgrund der Vertreibung aus deren Heimat.
Finanziert haben diese Gotteshäuser der Weltrat der Kirchen in Genf, die Lutheran World Federation, die Evangelical and Reformed Church, die Presbyterian Church und das Schweizer Hilfswerk – die Kosten pro Gotteshaus betrugen jeweils 10.000 US-Dollar.
Bartning entwickelte einen Modellraum in Leichtbauweise aus vorgefertigten, genormten Einzelteilen. Die Notkirchen, für die er auf einen Entwurf von 1922 zurückgriff, haben als Besonderheiten ein sogenanntes Fensterband im Obergaden und das an einen Schiffsbauch erinnernde Kirchenschiff.
Dank der Fertigbauteile und der Mitarbeit der Gemeinde kostete der Bau einer Bartning-Kirche nur etwa die Hälfte dessen, was damals ein Kirchenbau in Massivbauweise gekostet hätte. In einer solchen Kirche finden zwischen 350 und 500 Gottesdienstbesucher Platz. Integriert waren meist eine Sakristei und ein abtrennbarer Gemeinderaum unter der Empore.
Das benötigte Holz für das zeltförmige Tragwerk, die Einbauten und das Gestühl wurde meist von Gemeinden in Skandinavien oder den USA gestiftet. Das tragende Gerüst aus sieben hölzernen Dreigelenkbindern wurde in wenigen Tagen auf dem von der Kirchgemeinde zu errichtetem Fundament aufgestellt. Von da an organisierte die Kirchgemeinde alles Weitere selbst.
Das Grundmodell ließ sich leicht auf lokale Bedürfnisse anpassen. Dabei konnten auch die Überreste der kriegszerstörten Vorgänger-Kirche integriert werden. Für die nichttragenden Wände wurden oft Trümmersteine verwendet. Der Kirchturm wurde häufig seitlich an der symmetrischen Westfassade angesetzt.
Es gab zwei Typen dieses Kirchenbaus: Typ A mit Spitztonnengewölbe und gemauertem Altarraum – er wurde wegen der aufwendigeren Dachkonstruktion nur zweimal errichtet.
Den Typ B als „Saalkirche mit Satteldach“ gab es mit drei verschiedenen Chorabschlüssen: mit polygonalem Altarraum, mit angemauertem Altarraum oder ohne gesonderten Altarraum.
Entstanden sind 41 Gotteshäuser vom Typ B, zwei davon wurden später an einen anderen Ort umgesetzt. Zwei von ihnen – in Aachen und in Düsseldorf – wurden später abgebrochen; von der Notkirche in Hannover-List die Binder in einer anderen Kirche wiederverwendet.
Bartning-Kirchen galten – anders als es die Bezeichnung „Notkirche“ vermuten lässt – von Anfang an keineswegs als Provisorien. Auch haben in den vergangenen Jahrzehnten Denkmalschutzbehörden in einigen Fällen den Abriss einer solchen Notkirche sowie den Bau eines Nachfolge-Gotteshauses verhindert.
Jüngere Vergangenheit und Gegenwart
1969 wurde direkt neben dem Gotteshaus ein kleines Pfarrhaus errichtet. Im Jahr 2000 feierte die Kirchgemeinde das Jubiläum „50 Jahre Justus-Jonas-Kirche“.
Koordinaten: 51° 30′ 3,7″ N, 10° 46′ 21,8″ O
https://de.wikipedia.org/wiki/Justus-Jonas-Kirche_(Nordhausen)
(dort auch Verzeichnis der Autoren; Textnutzung entsprechend Creative Commons CC BY-SA 4.0)
Autor:Holger Zürch |
2 Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.