Rezension
Jüdisches Leben: Dem Schrecken mit "Tikkun Olam" begegnen
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Dieses Buch zum Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 konnte so nur Marko Martin schreiben. Verbringt er doch seit über 30 Jahren die Sommer in Tel Aviv und in den Clubs der Stadt.
Von Sebastian Kranich
Auch den im Jahr 2024, in dem er überall Aufkleber mit „We will dance again“ (Wir werden wieder tanzen) sah. Denn allein beim Angriff auf die Feiernden beim „Super-Nova-Festival“ wurden 364 Menschen ermordet: „Du gehst tanzen und endest als verbranntes Etwas“, so sein Freund Yoni.
Zunächst versucht der Autor, in Gesprächen im Freundeskreis das Geschehen zu umkreisen, einen Raum der Erinnerung und des Nachdenkens zu öffnen. Dabei kommt Traumatisches in vielen Facetten zu Sprache. Bis hin zu der Wahrnehmung: "10/7", wie der Tag in Anlehnung an die Bezeichnung "9/11" für die Terroranschläge vom 11. September 2001 genannt wird, sei nicht bloß das größte Massaker an Juden nach dem Holocaust. Es ist, wie seine Gesprächspartnerin Dana äußert, eigentlich noch schlimmer als der Holocaust. Denn jene Mordorgie ist in Israel geschehen, dem scheinbar starken und schützenden Staat. Martin protokolliert Wortwechsel und Gedankengänge, die wiederholt mit Auslassungspunkten enden. Die Schilderungen bringen bei der Lektüre ins Stocken.
Doch liegt darin nicht das Ziel des Autors. Immer wieder geht er hart mit linksextremer oder globalisierungskritischer Täter-Opfer-Umkehr sowie der Gleichgültigkeit linksliberaler Gutmeinender und Kulturmenschen in Deutschland – dem eigenen Milieu – ins Gericht. Der Kern seines Anliegens dabei: Er zwingt zwar, das brutal Böse zur Kenntnis zu nehmen, um sich dagegen wappnen zu können. Sein Herz jedoch schlägt in der Solidarität der Erschütterten – für die Opfer.
Das alte jüdische Gebot „Tikkun Olam“, die Reparatur der Welt, setzt Martin dem Grauen und der Schockstarre entgegen. Skeptisch gegenüber dem Großbegriff der „Rettung“ und der umfassenden Frage nach dem „Warum des Bösen“ betont er den Wert der mentalen und lebenspraktischen „Ersten Hilfe“. Einer Hilfe, wie sie auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt. Und was ist mit den zivilen Opfern in Gaza seither?
Ethisch stecke die israelische Armee durch die Kriegsführung der Hamas auf Kosten der eigenen Zivilbevölkerung in einem Dilemma, so der Autor. Trotzdem bohre die Frage nach den vielen toten palästinensischen Kindern weiter.
Schließlich ruft Martin gegen den Schrecken noch das Bild einer Stadt auf. Nein, nicht Jerusalem. Tel Aviv, tolerant und lebensfroh, wird in bunten Farben geschildert. Tel Aviv wie vor "10/7"? Dazu eine Episode aus dem Schlusskapitel:
Ein Mann singt beseelt in einer Karaoke-Bar. Noch während des Beifalls springt er von der Bühne. Er eilt zu einer tätowierten Frau, die heftig zittert, nimmt sie in die Arme, sagt laut: Du bist hier im „Ballenby“. Nicht beim „Supernova-Festival“. „Erinner’ dich an deine Freunde, aber geh aus diesen verdammten Bildern raus, bitte! Und zwar jetzt.“
Wenngleich der Autor Skepsis hegt gegenüber seiner „plötzlichen, irren Hoffnung, die Tel Aviver Geschichten könnten dem Grauen womöglich irgendetwas entgegensetzen“: Nur die Lektüre kann entscheiden, ob jene Hoffnung mehr ist als eine „verstiegene Illusion“.
Der Autor ist Direktor der Ev. Akademie Thüringen.
Martin, Marko: Und es geschieht jetzt. Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober, Klett-Cotta, 224 S., ISBN 978-3-608-50255-8; 22,00 Euro
Tipp: Buchvorstellung mit Diskussion, Augustinerdiskurs, 11. Februar, 19 Uhr, Augustinerkloster Erfurt
Autor:Online-Redaktion |
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